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Anna Weber erinnert sich: Als sie Mashhits Worte hörte, empfand sie Freude und Trauer zugleich. Ein Enkelsohn – das hieß, daß sie ihre Tochter Barbara wieder finden würde. Es hieß aber auch, daß die Lieder ihrer Großmutter Lisa für immer verstummen würden.

Und dann erinnert sich Anna Weber daran, daß ihre Trauer ein Ende fand, daß sie nur noch Freude empfand: damals, als sich herausstellte, daß der Enkelsohn, den der Engel ihr prophezeit hatte, eine Enkeltochter war. Eine Enkelin, deren beispielloses Talent noch weit mehr leisten würde, als nur zu verhindern, daß Lisas einfache Volkslieder in Vergessenheit gerieten. Und das war etwas, das sie selbst in ihren verwegensten Phantasien nicht zu träumen gewagt hätte.

Mein Pseudopodium registriert, daß im Publikum sechs weitere Menschen sitzen, die sich an eine Engelserscheinung in den Jahren nach dem Krieg erinnern.

Sie werden Mir für diese Einmischung büßen müssen, Meine Engel. Ob Ihnen wohl Meine Abwesenheit im Himmel schon aufgefallen ist?

Ich lasse ein zweites Pseudopodium vom Mount Seymour herabsteigen, schicke es aus, um herausfinden, ob sich irgendeiner von ihnen mit Mir auf der Erde aufhält. Und entdecke Mashhit. In Akron, Ohio, wo er häufig die Gestalt eines Gastes in einer Fernseh-Talkshow annimmt. Und zwar immer dann, wenn er festzustellen meint, daß der ›Nachschub‹ an Seelen, die er für seine Engelschar benötigt, zu stocken scheint.

Unter dem Namen Menge Kifkif ruft er bei diesen Auftritten die USA dazu auf, die Vertreibung der Palästinenser aus dem Heiligen Land zu unterstützen. Zum Beweis dafür, daß ein derartiges Vorhaben eine ehrbare Tradition besitzt, nennt er als Präzedenzfall die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa. Auch sie sei mit Unterstützung der Engländer und Amerikaner durchgeführt worden, human und wohlgeordnet, wie er ausführt, und ohne Verluste an Menschenleben.

Zitternd hört das eine Zuschauerin aus Akron: Die erste Frau ihres Onkels Willi ist beim Versuch, über das zugefrorene Haff zu fliehen, mit ihren Söhnen – zwei waren es, Kinder noch – erfroren. Und als sie feststellen muß, daß Mashhit es raffinierterweise so eingerichtet hat, daß während seines Auftritts in der Sendung keine Zuschaueranrufe durchgestellt werden können, geht sie in die Küche und holt den Toaster. Trägt ihn ins Wohnzimmer und zertrümmert den Bildschirm – zum Andenken an die erste Familie ihres Onkels.

Ich mache mich schleunigst davon. Mashhit soll nicht wissen, daß ich in Akron bin.

Die Dirigentin Janowitz wirkt erschöpft, als sie zu Beginn des letzten Satzes den Taktstock hebt. Heimlich wirft sie rasch noch einen Blick in Meine Loge, um festzustellen, ob ihre Mutter inzwischen gekommen ist.

Mari sitzt nach wie vor in ihrem Haus am Marine Drive, immer noch starr vor Angst vor den möglichen Folgen von Irenes Symphonie. Um sich von dieser Angst etwas abzulenken, beschließt sie, ein Wacholderbäumchen ihrer Bonsaikollektion neu aufzubinden. Dazu muß Mari erst ins Gewächshaus ihrer Mutter und Blumentopferde holen – der Wacholder muß umgetopft werden, er ist zu groß geworden.

Sie geht über die schmale Brücke, die in ihren japanischen Garten führt, klettert die bemooste Uferbank hinunter in den Bach, der ohne Wasser ist. Steine, flach wie Untertassen, wie Fischschuppen übereinandergelegt, stellen einen Bach dar, der ins Meer zu fließen scheint. Farnwedel, filigran wie Klöppelspitze, besprenkeln mit hellgrünen Farbtupfern das olivgrüne Moos, die grauen Steine, Maris bleiche Füße.

Der Bachlauf endet an einer runden Öffnung in der Gartenmauer, durch die – blickt man vom Haus her auf sie – das hinter der Mauer liegende Meer in den Garten geholt wird: das Shakkei.[4] Nicht weit von ihm die Treppe, über die man in Anna Webers Gartenareal hinuntersteigt, das einen Teich umschließt.

Anna Webers Garten: Ein planlos disharmonischer Farbenwirrwarr … Mari rümpft die Nase. Ihr Garten schafft – wie ihre Bauten – einen Raum der Ruhe, mit ihm hat sie das Chaos in einen Ort der Ordnung verwandelt. Ganz anders die Pflanzungen ihrer Mutter: Sie sind eine obszöne Verherrlichung des Chaos. Spalierbäume – Birnen, Äpfel, Pfirsiche – ziehen sich die Wände entlang, ein Konfettiwirbel aus Petunien und Kapuzinerkresse liegt wie ein grellbuntes Karnevalskostüm über Zwiebeln und Knoblauch. Aus den Tontöpfen am Teich quellen rote Geranien, ergießen sich über das Ziegelsteinpflaster. Annas Leben ist eine chaotische Ereigniscollage. Wie die Tauben in dem kleinen Verschlag hinter ihrem Gewächshaus taumelt auch Anna bewußtlos durchs Leben, berauscht von der Gischt der See und dem Licht der Sonne. So wenigstens sieht es Mari.

Maris Leben dagegen ist ein geordnetes, lineares Fortschreiten von Ereignis zu Ereignis, durchdacht und zweckmäßig strukturiert wie ihr Garten. Inmitten einer Welt des Chaos und des Lärms errichtet ihr Leben Ordnung – wie auch ein symphonisches Werk der Musik das tut. Wie die Musik eines jeden Komponisten das tut – mit Ausnahme der Musik ihrer Tochter.

Ich richte Meine Aufmerksamkeit wieder auf den Konzertsaal. Die Musik setzt ein: Melodien, die die fünfziger Jahre wieder aufleben lassen.

Die alte Frau erinnert sich, wie sie in Westdeutschland, im Lager Friedland, von einem Arzt des Roten Kreuzes untersucht wird. Befund: Behindert, neunzig Prozent. Sie wiegt nur noch achtzig Pfund. Sie hatte die Lager nur überleben können, weil sie jedes Feingefühl erstickt und abgetötet hatte. Als man sie dann im Krankenhaus, zum erstenmal nach sechs Jahren, nicht mehr wie eine Sklavin oder ein exotisches Schoßtier, sondern wieder wie einen Menschen behandelte, reagierte sie leicht verwirrt: Sie hamsterte altes Brot unter dem Kopfkissen und verrichtete ihr Geschäft auf dem blank geputzten Linoleumboden neben dem Bett.

Sie bemerkte, daß die Krankenschwestern den Kopf schüttelten, als sie ihre Fieberkurve studierten. Sie hörte sie flüstern, irgend etwas von ›Monaten‹ flüstern. »Nein!« Schreiend sprang sie aus dem Bett. »Meine Tochter!«

»Holt Schwester Patrizia! Schnell!« befahl die Oberschwester. »Gnädige Frau! Bitte! Ein Moment.«

Und dann kam Schwester Patrizia ins Zimmer. »Ist das die aus Jugoslawien?«

Die anderen Schwestern nickten.

Schwester Patrizia winkte die junge Frau heran, die hinter ihr stand: zweiundzwanzig Jahre alt, strenges Gesicht, graubraunes Kostüm. »Nanji – das ist Fräulein Roswitha Kepner«, sagte Schwester Patrizia. »Von der Christlichen Hilfsgemeinschaft. Wenn du dich jetzt bitte wieder in dein Bett legen würdest – Fräulein Kepner will dir helfen. Vielleicht findet sie heraus, was mit deiner Tochter passiert ist.«

Schwester Patrizia nahm Nanji in den Arm und brachte sie ins Bett zurück.

»Grüß Gott.« Die Frau in Grau nickte Nanji zu. »Darf ich auf dem Stuhl neben Ihrem Bett Platz nehmen?«

Nanji zuckte gleichgültig die knochendürren Schultern. Sie sammelte all ihre Erinnerungen an Barbara zusammen, verräumte und versteckte sie wie ein eng geschnürtes Bündel tief in ihrem Gedächtnis und kroch wieder ins Bett.

»Ist Ihnen schon einmal gesagt worden, was mit unseren Leuten passiert ist, die zurückgeblieben sind?«

Nanji starrte aus dem Fenster.

Jetzt war es so weit: Sie wollten ihr den Traum rauben, der sie in den russischen Lagern am Leben gehalten hatte. Sie wußte es. Die Schlinge zog sich zusammen, zog sich immer enger zusammen.

»Sagt Ihnen der Name Gakowa etwas? Rudolfsgnad, Jarek … Molindorf?«

»Das sind Städte in Jugoslawien. Molindorf ist nicht weit von meinem Heimatdorf«, sagte Nanji reserviert. Wer war diese Frau? Wie kam sie dazu, so mit ihr reden, wenn sie nur eines wollte: ihr kleines Mädchen wiederfinden? War es ihr gleich, was Nanji in Rußland durchgemacht hatte?

»Es war überall das gleiche«, sagte die junge Frau. »Mich hat man nach Gakowa gebracht. Ihre Familie ist möglicherweise nach Molindorf gekommen. Zwanzig Deutsche in einem Zimmer. Vierzig in einem Haus. Und als alle Häuser belegt waren, haben sie in der Mitte der Hauptstraße einen Stacheldrahtzaun gezogen, und die Stadt in zwei Hälften geteilt. Dann noch einen Stacheldrahtzaun rund um die ganze Stadt. Die Alten und die Kinder, die noch zu klein waren, um zu arbeiten, kamen in die eine Hälfte, die größeren und kräftigeren Kinder und die jungen Erwachsenen in die andere.

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4

Shakkei: wörtlich ›geborgte Landschaft‹. Begriff aus der japanischen Gartenarchitektur, der das bewußte Hineinkomponieren der Hintergrundlandschaft in den Gartenentwurf bezeichnet. Cf.: Hennig, Karclass="underline" Japanische Gartenkunst. Form, Geschichte, Geisteswelt. Köln 1980 [Dumont TB 95]. S. 160 ff., 193.