Wir durften nichts mitnehmen, als uns die Partisanen zusammentrieben. Nur die Kleider, die wir am Leib trugen. Mit sechzehn war ich aus meinen Sachen herausgewachsen. Wenn wir vom Feld nach Hause gingen, haben wir bei den Bauern Kartoffelsäcke geklaut. Es hat nicht viel genützt – wir mußten auch weiterhin den Spott der serbischen Jungen einstecken. ›Was seid ihr denn? Jungs oder Mädchen?‹ haben sie von den Lastwagen heruntergeschrien, wenn sie an den Feldern vorbeigefahren sind, auf denen wir arbeiteten. ›Jungs natürlich! Sieht man doch an unseren geschorenen Köpfen, oder?‹ schrie Ingrid, die in unserem Arbeitstrupp war. ›Gelogen!‹ schrien die Jungen zurück und deuteten sich auf die Brust. Unsere Kartoffelsäcke verhüllten nicht allzu viel. Und einige hatten nicht einmal etwas zu verhüllen.
Im Arbeitslager Gakowa bekamen wir morgens ein kleines Stück Maismehlbrot. Etwa so groß wie mein Hand – das war alles.« Sie hielt Nanji die linke Hand hin, die rot war und rauh. »Dann mußte ich entscheiden: Alles auf einmal essen und dafür zweimal am Tag hungrig sein? Oder in zwei Stücke brechen und nur noch einmal hungern? Oder in drei Stücke und dafür den ganzen Tag über ein bißchen hungrig sein?« Sie zog die rechte Hand über die linke und unterteilte sie in drei Abschnitte. »Die Kleinkinder und die Alten, die nicht mehr arbeiten konnten, bekamen nicht einmal das. In den wenigsten Lagern haben Kinder überlebt, die jünger waren als zwei Jahre.«
»Warum tun die Menschen einander so etwas an?« fragte Nanji.
Fräulein Kepner sprach weiter, als hätte sie die Frage nicht gehört. »Nach einer Zeit wurde es in manchen Fällen in den Lagern in der Stadt ein wenig besser. Die serbischen oder ungarischen Verwandten der Insassen, die in der Nähe lebten, durften ihrer Schwägerin, ihrer Nichte oder wem auch immer Lebensmittel durch den Zaun zustecken. Sprechen durften sie allerdings nicht mit ihnen. Die Außenwelt sollte nicht erfahren, was hinter dem Stacheldraht vorging.
Am schlimmsten aber« – Fräulein Kepner zitterte, wenn sie daran dachte –, »schlimmer als alles andere war, daß mir nach einem Jahr meine Schuhe zu klein wurden. Mehr als drei Jahre mußte ich barfuß gehen. Immer und überall, ob Viehweiden oder Stoppelfelder … Meine Füße waren immer wund und blutig.
Eines Tages wurden wir, die Mädchen, von den Aufsehern schon vor Tagesanbruch aus dem Bett geholt. Jede von uns bekam eine lange Stange und einen Sack mit Kalk ausgehändigt. Zwischen unserem Haus und dem Nachbarhaus war ein Grab, in dem die Leichen in neun oder zehn Schichten übereinanderlagen, unter einer zwanzig Zentimeter dünnen Schicht Erde. Leichenbestattungen fanden immer nachts statt – für gewöhnlich innerhalb der Häuser, im jeweils größten Raum, damit die örtlichen Bauern keine Angst vor den Partisanen, ihren Befreiern, bekamen. Aber mit der Zeit war der Platz knapp geworden.« Einen kurzen Augenblick lang lag ein spöttisches Lächeln auf dem Gesicht der jungen Frau. »An jenem Morgen war es dann soweit: Gasblasen waren aus dem Grab aufgestiegen, Leichengas. Und weil unser Haus am äußersten Lagerrand stand, fürchteten die Aufseher, die Anwohner könnten sehen, daß etwas aus dem Boden stieg, das sie nicht sehen durften. Ich mußte barfuß über das Grab gehen, mit meiner Stange Löcher in die Erde bohren und Kalk in jedes Loch schütten. Bei jedem Tritt schaukelte und schwankte der Boden unter mir wie eine Schüssel Wackelpeter.«
Sie blickte auf ihre großen, schrundigen Hände. »Es tut mir leid. Wenn Ihre Tochter noch zu klein war, um arbeiten zu können, dann sieht es nicht gut aus. Für uns, die älteren Kinder, war es nicht recht viel besser. Ich hatte Glück. Die Kolchose, an die ich verkauft wurde, verpachtete meine Dienste täglich an einen Bauern. Ich war sein Viehhirte und hatte siebzehn Schafe, zwei Esel und drei Ziegen zu hüten. Draußen auf dem Feld, wo mich keiner sehen konnte, trank ich die Milch.
Jeden Morgen, wenn ich mit den Tieren auf die Weide ging, kam ich an einer anderen Kolchose vorbei. Fünfzig deutsche Mädchen, alle in meinem Alter, lebten dort. Wenn es mir möglich war, blieb ich für einen kurzen Schwatz stehen. Nach zwei Jahren waren nur noch vier am Leben.«
»Es muß schrecklich gewesen sein für Sie«, sagte Nanji. Sie starrte aus dem Krankenhausfenster, in die Wolken am blauen Himmel, und erinnerte sich an den Engel auf dem Bahnhof Friedland. »Aber Barbara lebt! Meine kleine Barbara lebt – ich fühle es.«
»Vielleicht«, sagte Fräulein Kepner leise. »Ich werde Ihnen jetzt beim Ausfüllen dieser Formulare helfen. Für das Rote Kreuz. Aber bitte … Machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen. Nicht einmal ein Drittel von denen, die in Jugoslawien geblieben sind, waren noch am Leben, als die Jugoslawen 1948 endlich dem Druck der Weltöffentlichkeit nachgeben und die Lager auflösen mußten. Nach unserer Schätzung leben noch etwa dreißigtausend Kinder in den staatlichen Heimen. Aber nur die wenigsten haben irgendwelche Papiere.«
Nanji dachte nicht daran aufzugeben.
Als man sie nach drei Monaten entlassen wollte, blieb sie im Krankenhaus und arbeitete in der Küche.
1951 – Barbara war jetzt neun – schrieb Nanji an das Jugoslawische Repatriierungsbüro in Wien. Man antwortete ihr, daß es ohne Geburtsurkunde, ohne das in serbischer Sprache abgefaßte Originaldokument, keine Möglichkeit gab, ihr zu helfen. Als sie Barbara damals zurückließ, hatte sie Knoblauchzöpfe geflochten.
Rosi Kepner und das Rote Kreuz konnten genausowenig helfen.
Eines Tages, als Nanji den Abfall in die Gasse hinter dem Krankenhaus brachte, ging Rosi ihr nach.
»Sagen Sie mal – sind Sie verrückt?« fragte sie Nanji.
»Was meinen Sie?«
»Ich habe gehört, sie wollen über die Grenze gehen.«
Nanji zuckte die Achseln und kippte ihren Eimer aus.
»Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder?« Rosi sah sie argwöhnisch an. »Ohne Papiere läßt man Sie nicht einmal nach Österreich. Und die jugoslawische Grenze ist vermint: Landminen.«
»Es wird sich schon ein Weg finden. Ich habe ein bißchen Geld gespart. Mit einem Führer und einer kleinen Bestechungssumme …«
»… landen Sie im Knast oder in einem Strafgefangenenlager. Für den Rest Ihres Lebens!«
»Ich will nicht mehr weiterleben. Ich kann nicht … Wenn ich es nicht wenigstens versuche.«
»Die Sache liegt acht Jahre zurück. Kein Mensch wird sich mehr an sie erinnern. Wenn sie überhaupt noch lebt. Und was ist, wenn Sie sie in einem Waisenhaus in Mazedonien finden? Wie steht’s mit Ihrem Albanisch? Kennen Sie jemanden, der es Ihnen beibringt? Barbara wird kein Wort deutsch sprechen.«
»Sie wird es lernen.«
»Wollen Sie wirklich gehen?«
»Nichts kann mich abhalten.«
»Bitte … Aber tun Sie mir erst noch einen Gefallen: Kommen Sie mit mir, wenn der nächste Kinderzug aus Salzburg in Piding ankommt.«
Im Kinderlager in Piding zeigte ihr Rosi zwei Jungen, Zwillinge, die ihre Mutter bespuckten und sie ein kapitalistisches Schwein schimpften.
Aber Nanji hatte nur Augen für eine sehr schmächtige Vierzehnjährige, die ihren Vater ängstlich fragte: »Darf ich jetzt deutsch sprechen?«
Rosi gab auf. Sie drückte Nanji ein wenig Geld in die Hand und nahm sie in die Arme. »Bitte schreiben Sie die Namen so vieler Kinder wie möglich auf, und fragen Sie sie, ob sie sich an ihre Heimatstadt erinnern können.«
Nanji ging über die jugoslawische Grenze. Zwei Wochen später wurde sie aufgegriffen. Die Mindeststrafe für illegale Grenzüberschreitung betrug sechs Monate. Doch als sie dann in Kikinda, einer Nachbarstadt von Banatsko Veliko Selo, im Gefängnis saß, war sie glücklich und zufrieden. Sie hatte etwas unternommen, um Barbara zu finden – hatte nicht nur Briefe geschrieben und Formulare ausgefüllt …