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Zu ihrer Überraschung wurde Nanji nach drei Tagen wieder freigelassen. Der Polizeihauptmann händigte ihr diverse Papiere aus. »Mit diesem Papieren können Sie wieder zur Grenze zurück.«

Niedergeschlagen nahm sie die Dokumente an sich.

Als sie aus der Polizeistation kam, wartete unter den Pudelbäumen auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Frau auf sie. Nanji wollte es erst nicht glauben: »Danitza!« schrie sie und rannte auf ihre alte Freundin zu, die Tochter des serbischen Arztes, bei dem sie als Putzfrau gearbeitet hatte. Lachend lagen sie sich in den Armen.

Danitzas Vater hatte gehört, daß eine Deutsche im Gefängnis saß. Und als einer seiner Patienten ihm eröffnete, um wen es sich dabei handelte, hatte er dafür gesorgt, daß Nanji entlassen wurde und Passierscheine erhielt.

Nicht alle Kinder aus Charlevil waren in Molindorf gestorben, informierte sie Danitza. Ein paar Überlebende hatte man in ein Kinderheim geschickt, das nur wenige Kilometer weit entfernt war. Sie bestand darauf, Nanji dorthin zu begleiten.

Die Heimleiterin war eine korpulente, stämmige Frau, deren Garderobeideal nach wie vor die Uniform war: sie trug Armeejacke und -mütze. »Das ist jetzt acht Jahre her. Kinder verändern sich. Ganz erheblich sogar. Wie wollen Sie ihre Tochter wiedererkennen?« fragte sie. Über ihre linke Schulter starrte einschüchternd ein riesiges Porträt von Josip Broz Tito auf Nanji herab. »Wir haben keinen Aktenvermerk über eine Barbara Weber aus Veliko Selo.«

»Ich werde sie erkennen.« Nanji ließ sich nicht abbringen.

Die Frau zuckte die Achseln. »Kommen Sie mit.« Draußen auf dem Schulhof schwang sie eine große Handglocke.

Mädchen im Alter von acht bis sechzehn stürzten aus den Klassenzimmern ins Freie und stellten sich in zwei Reihen einander gegenüber auf.

Die Heimleiterin schritt mit Nanji die Reihen ab. In der Mitte der zweiten Reihe blieb sie stehen. »Die hier sind im entsprechenden Alter.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf. »Also? Welche ist die Ihre?«

Nanji ging von einem Mädchen zum anderen. Am liebsten hätte sie geheult: Nicht eines sah so aus, wie ihrer Meinung nach Barbara mittlerweile aussehen hätte müssen. Braune Augen sah sie – sie waren zu hell. Einen Mund – zu groß. Haare – viel zu lockig … »Lassen Sie mir etwas Zeit«, bat sie die Heimleiterin.

Ein Wink mit der Hand – die Mädchen traten wieder ab. »Tja, also dann«, meinte die Heimleiterin und läutete ein weiteres Mal mit ihrer Handglocke. Ein Mädchen, etwa achtzehn Jahre alt, kam auf Nanji zu. »Irina Cvetkov: meine Gehilfin. Sie wird Sie hinausbegleiten.«

»Wie sieht Ihre Kleine denn aus? Möglicherweise hat man sie ja in ein anderes Heim gebracht«, sagte Irina, als sie mit ihr über den Schulhof ging.

»Dunkelbraune Haare, braune Augen. Inzwischen zehn Jahre alt«, antwortete Nanji.

»Ich will es Ihnen bestimmt nicht noch schwerer machen – aber möglicherweise hat man sie adoptiert. Die dunkelhaarigen werden als erste genommen. Sie fallen weniger auf.« Irina sperrte Danitza und Nanji das Eisentor auf.

Nanji ging stumm hinaus.

»Darf ich Sie um einen Gefallen bitten, Madam?« fragte Irina. Ihr Deutsch hatte einen serbischen Akzent.

»Aber natürlich.« Nanji war überrascht, daß Irina deutsch sprach.

»Ich habe nicht immer Irina Cvetkov geheißen. Wenn jemand Sie nach Anna Seifert aus Ruma fragt – sagen Sie ihm, daß ich hier bin.«

»Vielleicht hat das Mädchen ja recht, und man hat sie adoptiert«, sagte Danitza. Sie saßen bei ihr zu Hause.

»Ja. Ich hoffe es. Herrgott im Himmel, laß nur nicht zu, daß sie tot ist.«

»Und du glaubst wirklich, daß keine von ihnen deine Barbara war?«

Nanji schüttelte den Kopf.

Danitza legte den Arm um Nanji. »Dann nimm eine von den anderen!« flüsterte sie ihr ins Ohr.

»Was?« Nanji fuhr entrüstet zurück. »Das wäre nicht recht!«

»Überleg doch maclass="underline" Sie schulden dir ein Kind. Und wenn etwas nicht recht ist, dann das, daß die Kinder in diesem Heim verfaulen. Keines würde sich weigern, mit dir zu kommen. Selbst wenn es wüßte, daß du nicht seine Mutter bist.«

»Aber das wäre doch Kindesentführung!«

»Und ihnen die Sprache rauben, ihnen den Namen nehmen – ist das nicht auch Kindesentführung?«

»Und was ist, wenn ich eines aussuche, und die Heimleiterin kann nachweisen, daß es nicht Barbara ist?«

»Na und? Dann hast du dich eben geirrt. Und kannst außerdem dem Roten Kreuz und der Christlichen Hilfsgemeinschaft den Namen eines Kindes nennen, wenn du wieder in Österreich bist.« Danitzas Augen blitzten. »Wir werden sogar noch etwas ganz anderes tun: Ich lenke die Heimleiterin ab, und du schreibst dir Name und Heimatdorf von jedem Mädchen auf, das sich noch erinnern kann.«

»Und was ist, wenn die Heimleiterin dahinterkommt?«

»Was soll sie schon machen? Mich nach Sibirien schicken?« Sie zwinkerte Nanji zu. »Dafür hat mein Vater zu viele Freunde.«

Vom Mount Seymour aus sehe Ich, daß plötzlich Mashhit den Konzertsaal betritt. Noch ist das Konzert nicht zu Ende, noch ist Mein Pseudopodium – allen anderen verborgen – tief in die Erinnerungen der alten Anna Weber versunken … Trotzdem scheue Ich Mich, noch länger zu bleiben: Mashhits Anwesenheit bedeutet große Gefahr für die Dirigentin Irene Janowitz. Auch wenn Ich nur allzu gern wüßte, wie die Musik der Janowitz es fertigbringt, Meinen Engeln die Seelen zu rauben – ich will die Gefahr nicht noch dadurch vergrößern, daß Mashhit auf Meine Anwesenheit aufmerksam wird.

Ich ziehe Mein Pseudopodium aus dem Konzertsaal zurück. Wenn man das ewige Leben hat, dann ist man daran gewöhnt, daß es mitunter etwas dauern kann, bis man hinter all die kleinen Geheimnisse kommt. Ich werde eben ein anderes Mal wiederkommen, um zu hören, wie die Janowitz ihre Symphonie dirigiert.

Schon will Ich Mich aufmachen und in den Himmel zurückkehren, da höre Ich, daß Mari in großer Angst nach Mir ruft.

Natürlich weiß sie nicht, daß sie nach Mir ruft. Wie alle guten Kommunisten wurde auch sie dazu erzogen, nicht an Mich zu glauben. Ein Schande – wirklich eine Schande. Der Glaube ist ein Geschenk, um das man Kinder niemals betrügen darf. Glauben zu können, das ist eine Gabe, die den Menschen mit zunehmendem Alter irgendwann einmal abhanden kommt.

Mari starrt entsetzt auf die Ziegelmauer hinter dem Pflanztisch ihrer Mutter. Die drei Holzrahmen, in denen die Seiten des Requiems steckten, die für Barbara geschrieben wurden, sind verschwunden. Verzweifelt sucht sie in allen Winkeln und Ecken des Gewächshauses.

Schließlich findet Mari die Rahmen unter einem Haufen alter Zeitungen und Topfscherben: die Glasscheiben sind zerbrochen, die Pappdeckelrücken abgerissen. Mari zittert vor Angst. Die Notenblätter sind gestohlen worden.

Mari tritt vor die Tür. Der Wind peitscht ihr den Regen ins Gesicht. Sie denkt nicht mehr daran, den Wacholder umzutopfen. Geht statt dessen auf das schmiedeeiserne Tor zu, das hinausführt auf die Klippenränder an der Grundstücksgrenze.

Hinter dem Tor steht eine Holzbank, vor der Bank ist ein Rosenbeet angelegt, bepflanzt mit Rosen der Sorte Barbi’s Summer Field. Wie ein Abbild der Farbpalette der vom Sturm aufgewühlten See sind die weißen, grüngeränderten Blütenblätter: Blaßgrün ist das Meer, auf dem dort, wo die Wellen an die Klippen schlagen, schaumige Ränder treiben – weiß wie filigrane Seidenstickerei.

Mari setzt sich auf die Bank und überläßt sich der Faszination, die Mein Regen auf sie ausübt, der die Farben der Felswände, die vor ihr liegen, intensiver leuchten läßt – so versucht sie, ihrer Angst Herr zu werden. Die Wälder und Klippen der Inseln weit draußen vor der Küste verschwimmen im Sprühnebel, es sieht aus, als wären die Inseln mit Bändern aus graublauer Zackenlitze gesäumt. Ein verniedlichendes Bild, eine Vorstellung, die sie beruhigt und sie ihre Fassung wiedergewinnen läßt. Bäume, Fels, Wasser – sie sind ihr Zuflucht im chaotischen Ereigniswirbel der menschlichen Welt. Und ihre Bauten sind der Versuch der Wiederherstellung der Ordnung Meiner Welt.