Irenes Musik macht Mari angst, so entsetzliche Angst, daß sie zu zittern beginnt. Einen Augenblick lang überlegt sie, ob Irene etwa die fehlenden Seiten wieder in ihr Requiem aufgenommen hat. Und kommt dann zu dem Schluß, daß das nicht sein kann: Irene hätte die Rahmen nicht so barbarisch zerstört. Aber wer sonst stiehlt schon Notenblätter? Wieder beginnt sie zu zittern. Irene bringt mit ihrer Musik schreckliches Chaos in die Welt. Annas Verlangen nach Unordnung und Verwirrung bleibt wenigstens auf ihren Garten beschränkt. Weiß Irene überhaupt, was sie mit ihrer furchtbaren Symphonie anrichten kann? Die Toten soll man in Frieden ruhen lassen.
Mari steht auf und blickt hinunter auf das wirbelnde Wasser. Der Anblick macht sie schwindlig. Vielleicht hätte sie Irene nicht so oft mit der alten Dame alleine lassen dürfen. Aber Anna hatte es so viel bedeutet, ihr die alten Lieder beizubringen. Die Lieder, die einmal Barbara hätte singen sollen.
Mari lächelt. Sie erinnert sich an den Tag, an dem Irene sie zum erstenmal mit ihrer Musik verblüfft hatte. Mari war damals sechs Monate in Maryland gewesen, um den Bau eines neuen Einkaufszentrums zu überwachen. Irgendwann während ihrer Abwesenheit war Irene der Violine und der Tasteninstrumente überdrüssig geworden und hatte ihre Großeltern überredet, ihr ein Waldhorn zu kaufen. An dem Tag, als Mari nach Hause kam, hatte es gestürmt. Wie heute, denkt sie. Irene hockte mit ihrem Waldhorn hoch oben auf der Klippe und versuchte, das Rauschen und Brausen der Wellen in der Höhle am Fuß der Klippe, ihr Spiel auf dem Horn und das Echo ihres Spiels so aufeinander abzustimmen, daß ein Hornsolo mit Begleitung daraus wurde – ein Hornkonzert von Mozart.
Wer hätte gedacht, daß sich dieses bezaubernde Kind einmal so entwickeln sollte? Es war erschreckend, mitansehen zu müssen, wie es zunehmend dieselbe Obsession ausbildete, die auch seine Großmutter beherrschte. Auch Mari hätte genügend zu erzählen gewußt. Nur hatte sie ihre Tochter damit nicht belasten wollen. Sie hatte gewollt, daß Irene frei und unbefangen aufwuchs. Die alte Frau aber hatte sie mit ihren Geschichten aus jener schrecklichen Zeit wie mit Ketten an sich gebunden. Als Mutter des Mädchens hätte sie das verbieten müssen, wirft Mari sich vor. Und jetzt diese entsetzliche Symphonie … Sie selbst wußte zwar von keinem, der durch die Musik ihrer Tochter wieder zum Leben erweckt worden wäre. Aber eigentlich … Woher konnte sie eigentlich sicher wissen, daß diejenigen, die jetzt – also seit der Zeit des Krieges – am Leben waren, tatsächlich auch immer gelebt hatten?
Mari entschließt sich, die Betontreppen zum Wasser hinunterzusteigen.
Von Regen und Gischt ist sie bis auf die Haut durchnäßt. In ihrer Erinnerung aber ist es trocken. Trocken und staubig.
Mädchen: eines neben dem anderen, eine lange Reihe. Mari stand am Ende dieser Reihe. Ihr gegenüber eine zweite Reihe Mädchen. Eine Serbin sprach mit der Heimleiterin über die anstehenden Schulhausreparaturen.
Eine dritte Frau, dünn und abgemagert, sprach mit den älteren Mädchen, die vorne in der Reihe standen. »Also Mädchen«, sagte sie auf Serbisch, »diejenigen unter euch, die sich noch erinnern können, sagen mir jetzt mal ganz schnell, wie sie früher geheißen haben, wie ihre Eltern geheißen haben und die Stadt, aus der sie kommen.«
Wie aus der Pistole geschossen schnatterten die älteren Mädchen drauflos. Mari wäre es lieber gewesen, sie hätten den Mund gehalten. Wenn die Lagerleiterin sie hörte, würden sie alle bestraft werden.
»Psst«, ermahnte sie die Frau, die zwischen den Reihen hin- und herwechselte und etwas auf einen zerknitterten Fetzen Papier kritzelte. Ihre Hände zitterten dabei.
»Ich soll jetzt sagen, daß ich Sava Petrovich heiße«, sagte eine Vierzehnjährige. »Aber mein richtiger Name ist Anneliese Straub. Vater: Michael; Mutter: Gertrud. Aus Kikinda.«
Mari knurrte der Magen. Warum konnten sie nicht still sein, dachte sie. Es gab sowieso schon so wenig zu essen. Sie lieferten der Heimleiterin nur noch einen weiteren Vorwand, um sie wieder einmal hungern zu lassen.
»Letztes Jahr haben sie meine Schwester fortgebracht. Irina meint, sie ist in Haus 38«, sagte ein anderes Mädchen. »Sie heißt Veronika.«
»Ich bin die Doris vom Friseur Lindhof aus Katarina.«
»Wenn wir deutsch sprechen, bekommen wir abends nichts zu essen.«
Mari wurde langsam zornig. Warum erzählten sie der Dünnen das alles? Was erhofften sie sich davon? Was glaubten sie, würde sich dadurch ändern? Es wäre vernünftiger, sich abzufinden mit dem, was geschehen ist, und das Beste draus zu machen.
Die Hand der dünnen Frau war schweißnaß, ihr Gekritzel war jetzt verschmiert.
»Frau! Bitte nehmen Sie mich mit. Ich kann Deutsch!«
Dumme Gans! dachte Mari. Wie entwürdigend! Wie konnte man bloß so würdelos betteln? Aber im Grunde ihres Herzens verstand sie sehr gut. Die Frau war eine Deutsche, die ihr Kind suchte. Die Mädchen hofften, sie würde ihre Namen hinausschmuggeln und sie dem Roten Kreuz melden, damit ihre Eltern wußten, daß sie noch am Leben waren. Vorausgesetzt, die Eltern waren noch am Leben.
»Ich bin die Resi vom Bauer Klein aus Stefansfeld.«
Die Frau stolperte. Eines der Mädchen nahm sie am Ellbogen und half ihr wieder auf. Und Mari hörte, wie es der Frau dabei ins Ohr flüsterte: »Ich kann nähen und stricken.«
»Und ich kenne zwanzig Rezepte auswendig«, sagte ein anderes Mädchen.
Die Frau blickte dem Mädchen eine ganze Weile in die braunen Augen, schüttelte dann den Kopf und wandte sich ab.
»Ich kann melken. Holen Sie mich hier raus, bitte!«
Die Frau starrte auf den roten Ziegelstaub, der den Boden des Schulhofs bedeckte.
Schließlich kam sie ans Ende der Reihe, dorthin, wo Mari stand. Die Mädchen, die hier standen, hatten der Deutschen nichts zu sagen. Die Frau aber sah sie so eindringlich an, daß Mari annahm, sie müßte eine Tochter haben, die so alt war wie sie. Die Mädchen links und rechts von ihr verkrampften sich vor Nervosität – Mari konnte es regelrecht spüren. So war es immer – jedesmal wenn eine Serbin kam, um sich ein Kind zur Adoption auszusuchen. An ihre Mütter erinnerten sich die Mädchen nicht mehr. Sie wollten nur eines: zu jemandem gehören.
Dumme Luder, dachte Mari. Die Serben holten sie doch nur, weil sie jemand für die Bauernarbeit, weil sie eine Köchin oder eine Kindsmagd brauchten. Sie hatte helles Haar und blaßgrüne Augen, sie sah viel zu auffällig aus, um damit rechnen zu können, daß jemand sie adoptieren würde. Das wußte Mari. Und ebenso wußte sie, daß keine deutsche Mutter jemals nach ihr suchen würde. Im Unterschied zu den anderen Mädchen konnte sie sich an ihre Mutter erinnern.
Sie erinnerte sich an ein Dorf, das mit Stacheldraht eingezäunt war. Sie erinnerte sich an ihre Mutter, die sich nachts davonstahl und morgens wieder zurückkam – in den Händen ein paar Kartoffelstückchen, eine Karotte, ein paar Erbsen. Sie erinnerte sich an ihre heimlichen Ängste, die Angst, daß ihre Mutter eine Diebin war. Und an einen Morgen erinnerte sie sich, an dem ihre Mutter nicht mehr nach Hause gekommen war. Sie erinnerte sich, daß sie mit anderen zum Stadtplatz ging, erinnerte sich an die vier Frauen, die dort knieten, deren Hände auf den Rücken gebunden waren, erinnerte sich an den Partisan, der jeder dieser ausgemergelten Frauen die Pistole ins Genick setzte. Erinnerte sich an Finger, die abdrückten, an einen Schuß, den sie genau in jenem Moment hörte, als sie die Frau erkannte, die unmittelbar vor ihr kniete.