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Ihre Mutter zuckte und fiel mit dem Gesicht in den Schmutz, bevor sie noch zu ihr laufen konnte. Hände hoben ihre Mutter auf einen Schubkarren. Mari hielt die Hand ihrer Mutter. Die Mutter drückte ihr die Hand und flüsterte: »Pst, pst.« Den ganzen Weg bis zum Massengrab hielt sie Maris Hand. Hände kippten den Schubkarren um, ihre Mutter flüsterte ihr zu: »Sei gut, mei Herzje!«, dann drückte der Partisan ein zweites Mal ab.

Ein anderer Partisan drückte Mari etwas Erde in die Hand und gab ihr zu verstehen, daß sie sie in das Grab werfen sollte. Für jede Gelegenheit gibt es ein angemessenes Ritual, alles hat seine Ordnung und seinen Platz.

Ihre Mutter tanzte eine letzte wahnsinnige Polka, ab die Erde auf das grünweiße Blumenmuster ihrer Kleiderschürze fiel.

Sei gut, Herzje. Wenn ihre Mutter sie doch bloß mit ihrem Namen angesprochen hätte – vielleicht hätte sie sich dann an ihn erinnert. Trotzdem: So wie es war, war es am besten. Wie auch die Schule besser war als das Lager. Sei gut. Ein brauchbarer Rat, fand Mari. Sie würde jedenfalls nicht mit der deutschen Dame sprechen. Sie wollte gut sein – sie wollte es auf keinen Fall schlecht machen.

»Liesl Heinrich«, sagte das letzte Mädchen. »Ich hatte eine Geburtsurkunde und ein Foto meines Bruders. Aber die Heimleiterin hat mir letzten Winter alles abgenommen.«

Die Frau faltete ihre Notizen zusammen und steckte sie in die Tasche.

Die Heimleiterin wies die andere Frau auf ein kaputtes Abflußrohr am Schulgebäude hin. Aber die achtete nicht darauf – sie konnte die Augen nicht von den Mädchen und ihrer Freundin lassen. Und als die hagere Freundin sich von den Mädchen abwandte, schüttelte sie den Kopf. Schüttelte den Kopf und dann die Faust.

Die Hagere blieb stehen, kam noch einmal zurück zu den Zehnjährigen in Maris Reihe.

Mari war entsetzt, als sich die Frau zu ihr beugte. »Wie heißt du?« Sie sprach serbisch.

Mari sah nach der Heimleiterin – sie hoffte, sie würde sich umdrehen und sie retten. Warum hatte diese Frau gerade sie angesprochen? Und schließlich sagte sie: »Mari Broz.« Der Hageren ihren Namen sagen – so war es gut. Sie war stolz darauf, denselben Namen zu tragen wie Marschall Tito. Sie starrte auf den roten Staub, der auf den abgestoßenen schwarzen Schuhen der Frau lag.

»Mari – ich suche ein kleines Mädchen, das mit mir kommt und bei mir leben möchte. Möchtest du dieses Mädchen sein?«

Mit dieser Frau gehen – Mari war klar, daß das nicht gut war. Aber die Hand, die ihr angeboten wurde, erinnerte sie daran, wie es war, eine Mutter zu haben. Sie wußte nicht, was sie machen sollte. Und dann versetzte ihr eines der Mädchen einen Rippenstoß und flüsterte ihr zu: »Geh schon, dumme Kuh!«

Mari nahm die Hand, die die Frau ihr reichte.

»Das ist mein Tochter«, hörte sie die Frau zur uniformierten Heimleiterin sagen. Hinter ihr stand Irina Cvetkov. Mari fürchtete, Irina würde sie zurückhalten: Irina wußte, daß Maris Mutter tot war. Aber Irina nahm Mari in den Arm und drückte sie zum Abschied fest an sich.

Meerwasser spritzt auf, eine Welle läuft durch Mein Pseudopodium. Ich höre die erwachsene Mari schreien: »Nein, Irene! Hör auf mit der Musik!« Dann höre ich nichts mehr. Nur noch das klatschende Geräusch der Wellen, die an die Felsklippen schlagen.

Mari ist verschwunden. Sie ist nicht wieder auf die Klippe zurückgeklettert. Ich taste und fühle mit Meinem Pseudopodium: Nichts. Mary ist nirgendwo. Nirgendwo in Kanada.

Vom Mount Seymour blicke Ich hinunter in den Konzertsaal. Mashhit ist nicht mehr allein. Engel schweben durch die Luft, sitzen im Schneidersitz auf den Brüstungen der Logen. Hängen kopfüber an Kronleuchtern, schlagen flatternd mit silberbeschlagenen, ledrig schwarzen Flügeln.

Mir zumindest erscheinen die Engel schwarz, rabenschwarz beinahe. Für die Menschen im Konzertsaal aber erstrahlen sie im Glanz helleuchtenden, blendenden Lichts. So blendend hell, daß sie die Augen mit den Händen schützen müssen – obwohl sie gar nicht begreifen, daß die riesige Engelschar die Quelle dieses Glanzes ist. Ich sollte mich eigentlich freuen. Freuen und dankbar sein, daß die Engel erst um meine Erlaubnis nachsuchen, ehe sie den Menschen erscheinen. So wie die Zeiten heutzutage sind …

Auf dem Podium, zu Füßen der Dirigentin Janowitz, liegt ein Bündel weicher schwarzer Samt.

Verwirrt packen die Musiker ihre Instrumente ein, blättern verstört in Notenstapeln. Einem Oboisten flattert eine Seite mit der Überschrift Barbara schläft vor die Füße und zerfällt zu einem Häufchen Staub.

Ich spüre die Verwunderung der Musiker. Sie fragen sich, was sie da eben gespielt haben. Aber weil das, was sie da eben gespielt haben, in ihrer Welt, die noch so jung ist, so neu, nie existiert hat, können sie auch keine Erinnerung daran haben. Nun gut – möglicherweise plagen den einen oder anderen etwas helleren Kopf unter ihnen von Zeit zu Zeit irritierende symphonische Träume. Vielleicht macht er sich dann ein paar flüchtige Notizen von diesen Melodien – was Mir die Gelegenheit gäbe, sie wieder zu hören.

Auch das Publikum ist verwirrt. Die Leute wundern sich, warum sie im Konzertsaal sitzen. Zum größten Teil sind es einfache Arbeiter, Menschen, denen üblicherweise nicht allzu viel an derart extravaganter Unterhaltung liegt.

Der Logenplatz, in dem Mein Pseudopodium saß, ist jetzt besetzt. Helmut Janowitz, ehedem Vater der Dirigentin, kann sich nicht erklären, wie es kommt, daß er mit einer betagten Putzfrau, deren Tochter und ihren drei Enkelkindern in einem Konzert sitzt. Noch dazu am Geburtstag seiner Frau Tammy. Er macht sich schleunigst auf den Weg zur Garderobe und läßt sich Mantel und Schirm geben.

Anna Weber versteht nicht, was sie in einem Konzertsaal zu suchen hat. Weder ihre Tochter Barbara, noch irgendeiner von Barbaras Söhnen interessiert sich für symphonische Musik. Anna hat pflichtschuldigst den Anweisungen des Engels Folge geleistet – keiner der Jungen kann auch nur eine Note lesen. Sie wohnen in Burnaby, wo Barbara als Kunstlehrerin an der High School unterrichtet. Zwei der Jungen betreiben ein Zoogeschäft und verkaufen Meeresfische, der dritte studiert Biologie an der Simon Fraser University. Jeder von ihnen hat sich eine Kollektion Rock-and-Roll-CDs zugelegt – aber nur, um damit bei Freunden Eindruck zu machen, und nicht etwa, weil sie glühende Musikliebhaber wären.

Anna Weber wundert sich, was die Musiker da gespielt haben. Aber sie traut sich nicht zu fragen. Sie weiß, ihre Familie hält sie für senil. Sie fürchtet beinahe, daß es so ist – die Vergangenheit, die so weit zurückliegt, ist ihr gegenwärtiger als die Musik, die sie vor fünf Minuten gehört hat.

Barbaras Söhne wundern sich, wie sie sich von der alten Dame zu diesem verrückten Auftritt überreden lassen konnten. Außerdem wundern sie sich, wie sie an das Geld gekommen ist, das sie für den Mohn ausgegeben hat, mit dem sie ihnen diesen Kuchen zum Nachtisch gebacken hat.

Barbara bestaunt eben den Kronleuchter, als der Engel Hadraniel rülpst, und ein Blitzstrahl wie ein Lichtbogen im Raum steht. Sie wendet sich ab von diesem Schauspiel – »Los, Kinder! Wir gehen.« – und steht auf.

Mashhit schlägt mit ledrigen Flügeln und stößt auf die Bühne herab. Die Ketten, die den Donnerkeil, den er in der Nase trägt, mit dem Donnerkeil in seinem Ohr verbinden, reißen drei Silberstreifen in seine Wange. Er wühlt die Nase in den schwarzen Samt, tritt mit seinem verkümmerten Fuß nach ihr.

Natürlich sehen die Musiker Mashhit nicht. Aber der erste Geiger der zweiten Violinen sieht sein Gewand durch die Luft schweben. Einen kurzen Augenblick nur, dann wird ihm schwindlig – er muß sich setzen.