»Es steht geschrieben«, brüllt Mashhit seinen Mitengeln zu, »Du sollst nicht dulden, daß eine Zauberin lebt.«
Die Engel sind zufrieden mit sich: Sie haben das Requiem wieder um die Passagen, die für Barbara geschrieben waren, ergänzt, haben dadurch den Zauber gegen Irene gewandt und Maris schlimmste Befürchtungen wahr werden lassen. Mari hat Jugoslawien nie verlassen, Irenes Vater nie kennengelernt. Und die Dirigentin Janowitz hat sich durch ihre eigene Musik um ihre Existenz geschrieben.
Ich taste Vancouver ab, taste die ganze Welt ab. Abgesehen von jenem kurzen Auftritt von Barbara und ihren Kindern, abgesehen von der Heirat von Irene Janowitz’ Vater mit einer Frau namens Tammy, und abgesehen von Maris Verschwinden, hat sich jede Spur der Zauberkraft der Dirigentin in Luft aufgelöst. Die Engel haben ihre kleinen Seelen wieder. Alle.
Ich schicke ein anderes Pseudopodium nach Jugoslawien: Mari Broz sitzt auf einer Holzbank auf der Ladefläche eines Planwagens. Mit ihr fahren fünfzehn weitere Landarbeiterinnen des landwirtschaftlichen Betriebs, bei dem sie als Traktoristin arbeitet. Die Frauen tragen dunkelblaue Hosen, dunkelblaue Jacken und Kopftücher. Mari hat kein Kopftuch umgebunden. Stolz stellt sie die wenigen blonden Strähnen zur Schau, die noch im weißgewordenen Haar blitzen. Sie sitzt etwas abseits von den anderen, am weitesten von der Ladeklappe entfernt.
Zwei Frauen lachen. Lachen so laut, daß Mari es nicht überhören kann. Sollen sie doch, denkt sie sich. Sollen sie ruhig darüber witzeln, weil ich immer noch darauf warte, daß meine Mutter mich wiederfindet. Sie sind nur neidisch: Meine Mutter ist eine Deutsche, und die Deutschen sind reich.
Im Grunde ihres Herzens aber hat Mari Angst vor ihren Kolleginnen. Wenn die wüßten, daß sie die Tochter einer Diebin ist – sie zittert vor Angst. Aber andererseits, so spricht sie sich Mut zu, ist das eine Sache, die niemand etwas angeht. Ich bin eine gute Arbeiterin, bin Mitglied der Partei und trage denselben Namen wie der Vater Jugoslawiens – mit den Verbrechen meiner Mutter habe ich nichts zu tun. Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich bin Kommunist. Ein wahrer Kommunist: nicht so einer wie diese Scheinheiligen in Belgrad, die den Namen Serbisch Kommunistische Liga abgelegt haben und sich jetzt Sozialistische Partei Serbiens nennen: ein schäbiges Zugeständnis an den Druck der öffentlichen Meinung des Westens.
Der Lastwagen stößt und rumpelt auf der unbefestigten, ausgefahrenen Straße. Mari ist das nur recht: Der Lärm übertönt die Stimmen der anderen, sie ist fest entschlossen, sich von ihnen die angenehmste Zeit des Tages nicht verderben zu lassen. Sie braucht diese Zeit, die ihr die Möglichkeit gibt, ihrer Lieblingsvorstellung nachzuhängen: Mari sieht sich als Mutter einer Tochter. Abends, stellt sie sich vor, wenn sie nach Hause kommt, wartet ein Brief ihrer Tochter auf sie. Sie sieht ihn auf dem Plastiktischtuch liegen, im Schein der nackten Glühbirne, der einzigen Lichtquelle in der Küche.
Heute abend, redet sie sich ein, wird es keinen Streit geben mit den Jankovics, mit denen sie sich das Haus mit den zwei Schlafzimmern teilt – ein Haus, das einer ungarischen Familie gehört hatte, bevor der Zusammenbruch Jugoslawiens die Jankovics nach Norden verschlug. Heute abend, glaubt sie ganz fest, wird ihr niemand unmoralisches Verhalten vorwerfen, wenn sie sich weigert, ihr Schlafzimmer mit den halbwüchsigen Töchtern der Jankovics zu teilen.
Heute abend ist ihre Tochter ein Model in Hongkong und schickt ihr eine chinesische Modezeitschrift, mit ihrem Porträt auf dem Titelbild. Und Mari wird es selbstverständlich aufhängen, an der grob verputzten Wand hinter dem Küchentisch, den sie mit den Jankovics teilt.
Nein: Heute abend ist ihre Tochter eine Schriftstellerin aus Entre Rios in Südbrasilien, von der die ganze Welt erfährt, wie Maris Mutter starb – aber nicht, daß sie eine Diebin war. Im Roman ihrer Tochter ist Maris Mutter eine Partisanin, eine Widerstandskämpferin, die dazu beigetragen hat, daß die Deutschen besiegt werden konnten.
Oder – noch besser: Heute abend ist ihre Tochter eine weltbekannte Komponistin. Nach ihrem Konzert in Belgrad wird man sie zu ihr bringen, weil sie Mari besuchen will. Was die Frauen, die neben ihr auf der Bank sitzen, wohl dazu sagen werden … Mari lächelt.
Vancouver. Die geflügelte Schar fliegt eine Ehrenrunde zur Feier ihres Erfolgs, jubelt und stößt lautes Freudengeschrei aus. Sterbliche bemerken nichts davon. Sie hören weder den Jubel der Engel, noch sehen sie deren schwarze, ledrige Flügel, die sich im tumultuarischen Durcheinander flatternd ineinander verhaken. Aber sie nehmen ein Brausen in der Luft wahr, das wie ein Sturmwind ist. Und sie riechen die Engel, riechen einen Duft, so drückend und schwer wie Jasmin. Und auch die, die es eben noch gar nicht eilig hatten, stehen jetzt auf und gehen.
Was Meine Engel nicht wissen: In einem verlassenen Gewächshaus auf dem Grundstück eines Hauses am Marine Drive liegt – versteckt hinter einem Haufen gesprungener Tontöpfe – ein Notenblatt: ein Arrangement für Akkordeon und Orchester mit dem französischen Titel La chanson d’Irene – Irenes Lied.
Originaltiteclass="underline" ›IRENE’S SONG‹ • Copyright © 1993 by Astrid Julian • Erstmals erschienen in ›Interzone‹, März 1993 • Mit freundlicher Genehmigung der Autorin • Copyright © 1996 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München • Aus dem kanadischen Englisch übersetzt von Jakob Leutner • Illustriert von Jobst Teltschik
Jacques Mondoloni • Frankreich
MEMOSCHMERZEN
Algie saß da wie ein chinesischer Buddha und schien zu meditieren – wie gewohnt waren seine Beschuldigungen heftig, unerbittlich, und die kleine Eva, die verschrumpelte Frau, die fast menschliche Zwergin, sank vor lauter Schmerz in sich zusammen, als er sich über sie ärgerte. Wie gewohnt stolperte er in einem bestimmten Moment absichtlich über ein Wort, über ein Wort aus der Vergangenheit, ein Wort, das mit ihrem Verbrechen zu tun hatte, und gab vor, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Die in seinem künstlichen Körper eingeschlossenen Ordnungskräfte wurden befreit. Was folgte, war der zeitlich genau festgelegte Zyklus der Vergeltungsmaßnahmen. Der stets wie improvisiert scheinende Schlag ging auf sie nieder. Die gepanzerte Tür im Hirn der kleinen Eva öffnete sich. Sie schrie auf, als sie die Schmerzen der Vergangenheit spürte. Ihr Gedächtnis klapperte wie ein schlecht geschlossener Deckel. Dann wurde sie ohnmächtig, begann zu schwitzen, wurde wütend und wehrte sich wie ein Kind, das nicht ins Bett will. Sie wurde ohnmächtig, ihre Gedanken konzentrierten sich krampfhaft auf den Knauf der Panzertür, sie weigerte sich zu gehen, weigerte sich, ihre Erinnerungen entschwinden zu lassen. Algie hingegen wurde deprogrammiert. Die Panzertür schloß sich wieder, und Erinnerungsfetzen, Schmerzsplitter drangen auf Umwegen, durch eine vorsätzlich angebrachte undichte Stelle ein und überfluteten die Wände ihres Hirns.
Eine leichte Ekstase begleitete ihr verblassendes Verschwinden. Es war, als würde sie in genauer Kenntnis der Sachlage die Besinnung verlieren. Sie akzeptierte das Leiden, den Untergang wie ein Kranker, der sich seiner Ohnmacht vollauf bewußt und gleichzeitig so schwach ist, daß er sich damit abfindet, daß es sinnlos ist, sich selbst zu verfluchen.
Algie wurde deprogrammiert. Die kleine Eva wurde geweckt. Man befreite diejenige, der man unentwegt mit Erschießung drohte, von ihrer Augenbinde.
»Die Sitzung ist aufgehoben!« verkündete Algie.
»Sie dürfen rauchen …«
»Die Geschworenen ziehen sich zur Beratung zurück.«
Welche Geschworenen? Algie war der Geschworene, der Staatsanwalt, der Verteidiger, der Richter, der Polizist, der Scharfrichter – alles in einer Person. Justizroboter. Organ der Rechtspflege. Lebende Statue mit asiatischen Zügen, die von ihrem cybernetischen Thron herab Wahrheiten aus Bronze verkündete. »Bronze …« So nannte ihn die kleine Eva, wenn sie das Wort an ihn richtete, da sie seine Titel nicht mehr kennen wollte, nicht mehr wissen wollte, ob sie sein Opfer und seine Mandantin war.