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»Bronze, laß mich schlafen … Bronze, laß zu, daß ich mich erinnere …« Ein lächerlicher Name für einen solchen Rachegott. »Ich heiße Algie«, wiederholte er in den Pausen, falls er einigermaßen gut gelaunt war. Algie, der Roboter in Buddha-Form, der Riesenroboter, der Schmerzenshändler. Algie, der Roboter, der sämtliche Schmerzen der Menschheit in seinem Gedächtnis aufbewahrte: dank einer Vorrichtung, die Memoschmerzen hieß. Ein nützliches Ding, das von jenen erfunden worden war, die es mochten, vordergründig zu lachen oder Angst einzuflößen.

»Ich verstehe, Bronze, du bestehst auf deinen entsetzlichen Namen … doch du bist bis unter die Haarspitzen aus Bronze!« erwiderte die kleine Eva, als er nicht lockerließ.

»Was heißt das?« fragte er gereizt.

»Oh! Du kannst mich verstehen? Du siehst so wuchtig, so mächtig, so unerbittlich aus … Du scheinst nachzudenken, doch du verdaust nur deinen Reis!«

Dies sagte sie aufgrund seiner asiatischen Gesichtszüge: seit sie mit ihm zu tun hatte, wußte sie, daß er nicht stolz darauf war. Warum hatten die Cybernetiker ihn mit dieser Physiognomie ausgestattet …? Wahnvorstellungen von Westlern, die sich immer noch vor der gelben Gefahr fürchteten? Oder der naive Reflex kultureller Empathie eines japanischen Ingenieurs, der für die Weltraumkolonien, für die Weltraumgefängnisse arbeitete …? Von einem formellen Standpunkt aus betrachtet, war das Geheimnis seiner Gestaltung zweifellos Teil des Programms, der Rolle, die man ihm zugewiesen hatte. Auf die Erde zurückzukehren, um seine Erzeuger, seine Erschaffer zu befragen, hätte keinen Sinn gehabt. Wieso nicht Anzeige erstatten …? Eine Prozeßmaschine strengte keinen Prozeß an. Eine Foltermaschine folterte sich nicht freiwillig. Zwei Basisbefehle, die irgendwo in seinem vervielfältigten, einem dicken Minutenlichtschalter ähnelnden Hirn festgeschrieben waren – hinter seiner grünlichen Maske, hinter seinen Haarbüscheln, zwischen seinen Schlitzaugen – und gegen die er nicht verstoßen wollte.

»Sie haben Angst vor Robotern!« verkündete er von Zeit zu Zeit, um sie zu erschrecken. »Eine Last, die sich zu allen übrigen Lasten, unter denen Sie bereits zu leiden haben und die ohnehin schon schwer genug sind, dazugesellt.«

Doch diese Art von Beschuldigungen beeindruckten die Angeklagte kaum.

»Das ist doch idiotisch, Bronze … Ich bin genauso künstlich wie du. Aber … ich bin weiß! Und ich bin eine Frau!«

»Die Geschworenen werden das zu würdigen wissen …«, erwiderte er, um sie sich vom Hals zu schaffen. Doch weil er in jenem Moment keinen Geschworenen verkörperte, kam er sich lächerlich vor.

Algie schien zu meditieren. »Und sie denkt, ich wäre mit meiner Verdauung beschäftigt!« sagte er sich und dachte über die kurze Zeitspanne nach, die ihm als Staatsanwalt noch blieb. Der Countdown hatte begonnen: seine Zeit als Verteidiger rückte näher. Und da ihm die Argumente fehlten, stellte er fest, daß die Fallen, die er ihr zuvor gestellt hatte, allmählich ihre Wirkung verloren. In Kürze würde er die Robe des Rechtsanwalts anlegen, dessen Stimme annehmen und, wie gewohnt, alle zerstören.

Ahnte die kleine Eva etwas von seinen Gewissensfragen, von seiner Schwierigkeit, mit einer Mehrfachidentität zu leben, die vom Menschen von Anfang an pervertiert worden war? – Eines Tages hatte sie ihm erklärt: »Bronze, du bist wie eine Wetterfahne …!« Seither kam sie immer wieder auf dieses Thema zu sprechen, quälte seine Eigenliebe, sofern sie ihn nicht gar beschuldigte, eine solche überhaupt nicht zu kennen. Im Schutz seiner Scharfrichterphase nagelte er sie am Boden fest, wenn sie es wagte, ihn auf diese Weise anzugreifen. Er brauchte nur auf irgendeinen Knopf der Memoschmerzen-Vorrichtung zu drücken, damit grausame, ferngesteuerte Kräfte in sie fuhren, ohne jemals auch nur die geringsten Spuren von Gewaltanwendung zu hinterlassen, weder an ihrem Körper noch in ihrem Hirn. Die ideale Prügelstrafe.

Die Memoschmerzen erschöpften sie. Doch obwohl sie sich, auf dem Bett ihrer Zelle liegend, unter Schmerzen wand, war sie längst nicht erledigt. Sie litt, ertrug entsetzliche Qualen, den codifizierten Sadismus der Scharfrichterphase, erlebte verschiedene peinvolle Phasen ihres menschlichen Lebens noch einmaclass="underline" die Babywehwehchen, den ersten Kontakt des Kindes mit spitzen Gegenständen im Haus, die ersten Enttäuschungen kindlicher Verliebtheit, die Entjungferung, den ersten Liebesverrat, die erste Trennung, die Niederkunft, den Tod eines geliebten Menschen und die fürchterliche Qual ihres eigenen Todes. Alles andere hatte sie vergessen. Die Wissenschaftler hatten nur Bruchteile menschlicher, allgemeingültiger Erinnerungen in ihr Hirn transplantiert, die nicht nur genauso armselig und unergiebig waren wie die künstlerischen Beurteilungen eines Museumsführers, sondern auch -auslöschbar.

Die kleine Eva schlief nur halb – sie wartete darauf, die Nachfolge Algies anzutreten, zum anderen Algie zu werden. Nicht daß seine Verwandlung zum Verteidiger sie beruhigte – sie machte sich nichts aus diesem ganzen Theater mit seinen offensichtlichen Veränderungen, aus diesem widerlichen Spiel des äußeren Scheins, diesem endlosen Spektakel eines zweitrangigen Schauspielers, der nicht von der Bühne abtreten will. Wenn Algie die Rolle des Verteidigers übernahm, hatte sie ihre Ruhe, mehr nicht …

Sein Plädoyer war jedenfalls stets erbärmlich, übertrieben querulant. Ganz gleich, wie ausführlich er Beweise und Gegenbeweise gegeneinanderstellte, das Resultat seines Geschwätzes war stets gleich Null, weil die Maschine ihr Urteil prinzipiell niemals ändern konnte.

Zu Beginn ihrer Einkerkerung hatte sie noch daran geglaubt, daß es eine Rolle spielen würde, welche Robe er sich umhängte. Doch anläßlich einer Wiederaufnahme ihres unendlichen Prozesses hatte sie begonnen, ihre Meinung zu ändern.

»Schlafen Sie, kleine Eva …«

Seine Rechtsanwaltsphase begann stets mit diesen ein wenig zärtlich klingenden Worten, so als entschuldigte er sich für den Ärger, den er ihr in seiner Staatsanwaltsphase bereitet hatte.

»Laß mich schlafen, Bronze …«

Sein Buddha-Gesicht nahm einen verärgerten, schuldbewußten Ausdruck an und erinnerte an das eines Orakels, das sich auf der ganzen Linie geirrt hat. Hinter seinen grünlich grauen Lippen verbarg sich ein Ausdruck von tiefem Mitgefühl, ein Versprechen auf Hoffnung, und mit verlegenem Blick starrte er auf seine Schenkel, seine gewaltigen, stets unbeweglichen Schenkel.

»Rauche, Bronze, ich mag es, wenn du rauchst …«

Dann qualmte er wie ein Weltraumspediteur, der, auf einer Kiste sitzend und mit seiner Pfeife im Wind, dabei zuschaut, wie seine Waren verladen werden. Außer daß Algie keinen Tabak besaß: aus seiner Pfeife stiegen angenehme, mit Rum vermischte Tabakdüfte auf, die sich mit Hilfe bläulichen Dampfes materialisierten. Dieser Dampf zischte aus Düsen, die hinter seinem steifen Oberkörper verborgen waren. Befand sich der Tabak im Innern der Statue, in einer Spezialtasche …? Diese Illusion genügte der kleinen Eva. In der Maschine gab es ein Raucherabteil, das war das wichtigste. Für einige Augenblicke verwandelte Algie die Zelle in einen englischen Pub. Sein habeas corpus erhielt einen kleinen Pluspunkt. Im englischen Pub fehlten nur noch ein paar Menschen aus Fleisch und Blut, damit sie an ihre Rechte glauben konnte, an die Unparteilichkeit des Gerichts, an die Zivilisation – an ihre Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies.

»Ich weiß ganz genau, woran Sie denken«, hüstelte Algie, »wir haben schon hundertmal darüber gesprochen …«