»Dann erwähne es nicht schon wieder, Bronze …«
»Es geht mir darum, jegliches Mißverständnis auszuschließen. Vergessen Sie nicht, daß ich Ihr Verteidiger bin …«
»Und gleichzeitig mein Scharfrichter!«
»Das bin nicht ich … Also, Sie verlangen, daß man Sie nach den Gesetzen der menschlichen Justiz behandelt und man gleichzeitig nicht mehr ganz und gar menschlich ist. Eva, Sie sind künstlich, aber Sie vergessen dieses nicht unwesentliche Detail immer wieder …«
»Weil ich einsdreißig groß bin?«
»Wenn es nur das wäre …!«
»Ich bin ein ehemaliger Mensch!«
»Ja, aber Sie wurden rekonstruiert, recycled, wie man früher sagte … Na, wo sind denn Ihre ursprünglichen Organe? Was ist geblieben von der Frau, die Sie in einem früheren Leben einmal waren …? Physisch betrachtet nicht sonderlich viel, nicht wahr! Sie sind eine Androide, eine Gyneoide …«
»Ich bin keine richtige Androide. Übrigens bin ich nicht zweigeschlechtlich wie alle anderen Androiden. Ich bin weiblichen Geschlechts und sehe aus wie eine Frau.«
»Ich gestehe Ihnen zu, daß Sie ihnen nicht ähneln: die Androiden der Generation 10 sehen aus wie Transvestiten! Doch Sie sind immerhin das Trugbild einer Frau … und, faktisch besehen, asexuell!«
»Sexuell habe ich … früher existiert! Ich bin ein Mischling!«
»Einverstanden … Aber im Moment wird Ihr Leben von der Gesellschaft der Roboter geregelt. Unsere Sozialgesetze, unsere Sitten und Gebräuche, unsere Handlungsfreiräume haben Grenzen, vergessen Sie das nicht …!«
»›Vergessen Sie das nicht! Vergessen Sie das nicht!‹ – Du wiederholst dich ständig, Bronze … Ja, ich habe es vergessen, ich habe es vergessen. Dann gib mir meine Erinnerungen zurück, wenn du dazu imstande bist!«
»Oh! Das Gedächtnis, das ich Ihnen ausleihen kann, ist selektiv, vergessen Sie das nicht …«
»Wie war ich, früher?«
»Größer … Die Operation hat Sie kleiner gemacht. Und Ihre Erinnerungen sind in der Wäsche eingegangen …«
»In der Gehirnwäsche …«
»Ja. Das war die Voraussetzung für Ihr Überleben …«
»Und ich war damit einverstanden …?«
»Ja.«
»Wieso?«
»Keine Ahnung.«
Gemächlich legte Algie seine Pfeife zur Seite, entfaltete seine drallen dunkelbraunen Buddha-Arme und ließ sie auf eine Weise herumwirbeln, die äußerst beeindruckend und der Emphase seines plumpen Umfangs würdig war: zum Vorschein kam der Pflichtverteidiger; irgendwo in der Maschine wurde sein Eintrittsticket zur Bank der Verteidigung von einem routinierten Zahn gelocht.
»Meine verehrte Mandantin, sehr geehrte Herren Geschworene«, begann er, »meine verehrte Mandantin hat es nicht verdient, einer Schandtat bezichtigt zu werden …«
»Ende der Durchsage!« unterbrach ihn die kleine Eva.
»Sie erleichtern mir nicht gerade die Arbeit, meine kleine Eva …«
»Warum sollte ich das tun? Ich sitze im Gefängnis.«
»In einem goldenen Gefängnis, vergessen Sie das nicht …«
»Ein Gefängnis ist ein Gefängnis. Golden ist ein Adjektiv, das nur diejenigen verwenden, die es nicht kennen …«
Algie ließ seine Arme abrupt nach unten sinken und so geräuschvoll gegeneinanderschlagen wie zwei Becken. Der Putz blätterte ab, und die vorstehenden, mit Harz überzogenen Venen kamen zum Vorschein.
»Du hast ein wenig Schminke nötig …«, sagte die kleine Eva ohne zu lächeln.
Algie reagierte nicht auf diese Bemerkung, sondern schlug sich mit den Fäusten auf die Oberschenkel – er war mit einer verletzenden Äußerung im Rückstand. Der Putz bröckelte ab und zersetzte sich wie eine Rußschicht unter den Schlägen eines Schornsteinfegers. Er schimpfte. Sein innerer Chronometer ärgerte sich darüber, daß diese winzige furchtlose Frau ihm widersprochen, ihn zurechtgewiesen hatte. Die Zeit arbeitete erneut gegen ihn und zwang die Programmierkarten, sich zu winden wie ein Gummiband, das man gestrafft und dann mit einemmal losgelassen hat.
»Herr Vorsitzender, ich sehe mich verpflichtet, mein Plädoyer abzukürzen …«
Algie, der Vorsitzende, der unter Algie, dem Verteidiger, brütete, nickte traurig mit dem Kopf.
»Wünschen Sie, daß die Sitzung unterbrochen wird?« fragte Algie, der Vorsitzende.
»Sie hat doch gerade erst begonnen …«, beklagte sich Algie, der Verteidiger.
Algie, der Verteidiger, kratzte sich am Kopf. Die Maske des gutmütigen Buddha, des lebendigen Idols, das sich offensichtlich mit großer Aufmerksamkeit den Sorgen der anderen widmete, rief den Requisiteur um Hilfe. Er mußte schleunigst in eine andere Robe schlüpfen, eine andere Autorität verkörpern.
»Man macht es mir unmöglich, meine Arbeit zu tun, Herr Vorsitzender«, behauptete er feige.
»Möchten Sie, daß wir eine Phase überspringen?« schlug Algie, der Vorsitzende, vor. »Sie kommen dann später wieder dran.«
Algie, der Verteidiger, stimmte verschämt zu.
Die repressiven Schaltungen im Innern der Maschine begannen zu knirschen. Algie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Seine bronzenen Züge warfen sich in Falten. Ein ablehnender Ausdruck zeigte sich, und nach einer weiteren ungeschickten Geste, einer letzten Konzession an seine Funktion als Verteidiger, legte er seine Kleider ab. Die kleine Eva überließ er bedenkenlos dem Zorn des Gerichts.
»Es ist Ihre Schuld!« murmelte er in ihre Richtung.
»Natürlich!« erwiderte die kleine Eva mit näselnder Stimme.
Da die mindestens fünfzigminütige Redezeit, zu der Algie als Verteidiger berechtigt war, ihm nicht mehr zur Verfügung stand, war er gezwungen, diese wieder an das Gericht abzutreten, also an sich selbst, an einen bösen, lasterhaften Doppelgänger, von dem man erwartete, daß er die kleinen Gemütsregungen, die er zuvor verspürte, inzwischen vergessen hatte. Die Komplizität, die zwischen ihm und der kleinen Eva bestand, auch wenn sie bloß eine Vortäuschung war, wurde im Namen der Planung, des sakrosankten Berechnungsgesetzes verschleudert.
Obwohl es durchaus flexibel gehandhabt werden konnte, durfte sich niemand ungestraft an dem Berechnungsgesetz vergreifen, das den Verlauf des Prozesses bestimmte. »Alles fließt, alles ist beweglich, die verschiedenen Akte des Stückes können sich in den eigenen Schwanz beißen, doch das Stück hat nur ein Ziel, und seine Dauer ist alles in allem immer die gleiche«, sagte Algie manchmal, vermutlich als Parodie auf die Philosophie seiner Schöpfer.
In seiner Eigenschaft als ein dem Justizsystem unterworfenes Wesen war Algie stets mit einer Änderung des Zeitplans, mit einer kleinen Verschiebung einverstanden. Man merkte, daß er durchaus gewillt war, einen Termin zu verlegen (Absagen kamen allerdings niemals in Frage!), man spürte, daß er nichts dagegen einzuwenden hatte, das Eintreten der Memoschmerzen hinauszuzögern … Der Beweis: die Memoschmerzen wurden niemals ausgelöst wie das Klingeln eines Weckers. Die zyklischen Schmerzen, die im Hirn des Roboters lagerten, trafen die kleine Eva niemals überraschend. Stets wurde die kleine Eva taktvoll davon in Kenntnis gesetzt, damit sie sich gebührend darauf vorbereiten konnte. Algie, der Scharfrichter, schien sich dafür entschuldigen zu wollen, daß er die Fleisch gewordene Pein darstellte, die Religion des Schmerzes, die qualvolle Erinnerung an eine Vergangenheit, die ein sadistischer, geschwätziger Ingenieur noch einmal überdacht und chiffriert hatte.
In der Praxis konnte Algie sogar die den Memoschmerzen bewilligte Zeit verringern, weil er sämtliche Rollen innehatte – sofern die kleine Eva ihn nicht lächerlich machte. Die Schmerzskala war ebenso veränderbar wie die Aufteilung der Zeit, doch das Ende des Prozesses stand eindeutig fest.
»Bronze, du schälst dich«, sagte die kleine Eva in ironischem Ton. »Wieso benutzt du kein Bräunungs-Öl …?«