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»Einspruch!« schrie Algie, der Gerichtsvorsitzende.

Er war wütend. In aller Eile übertrug Algie, der Vorsitzende, Algie, dem Scharfrichter, seine Vollmachten: Dringlichkeitsprozedur.

Die Schmerzen warfen sich auf die kleine Eva. Jugenderinnerungen bedrängten sie. Die Panzertür in ihrem Hirn öffnete sich, und ein Stück bereits gelebtes, regelmäßig verborgenes, verdrängtes, zur Schau gestelltes, begrabenes Leben tauchte fühlbar und mit eidetischer Präzision vor ihr auf.

Sie schrie »Mama!«, rannte wie von Sinnen über eine steinerne Treppe in einem steinernen Haus und zeigte das schwarze Blut, das an ihren Schenkeln hinunterlief. »Endlich bekommst du deine Tage, meine Kleine!« rief ihre Mutter erfreut. Sie unterbrach ihre Arbeit – welche Arbeit? In diesem Moment war der Film sehr undeutlich – und, in Tränen aufgelöst, vor Freude weinend, suchte sie nach einem Handtuch. Die steinerne Treppe zog vorbei, das Blut hinterließ Flecken auf den Stufen, ihre Mutter war nicht mehr zu sehen. Sie hörte, wie sie in einem Schrank stöberte. Sie ahnte, daß ihre Mutter glücklich war über das, was passiert war, doch sie haßte die hygienischen Gründe, die ihr Kommen verzögerten. Die steinerne Treppe zog vorbei, um ihr zu erlauben, Zeit zu gewinnen. Die Bilder begannen erneut von vorne, weil sie das Blut, den Film krampfhaft festhielt. »Mama, komm, es läuft …« Der Schmerz ergriff Besitz von ihrem Unterleib, die Treppe drehte sich um sich selbst, sie hörte sich brüllen: »Nein, nein!« Sie hörte die weinerliche Stimme ihrer Mutter, die versuchte, sie zu beruhigen. Plötzlich sank sie zu Boden, es war nicht mehr auszuhalten. Sie ließ das ganze Blut, das aus ihrem Körper drängte, aus sich heraus, sie wurde zu einer Vagina, zu einer jammernden, zufriedenen Vagina, sie wurde zu einer undichten Schleuse, schmutziges, lauwarmes Wasser, das durch den verdrehten Kanal in ihrem Innern floß, sie litt an diesem warmen Glück, das sie zerriß, sie genoß die Sexualität, die sich ihr offenbarte.

Die kleine Eva betastete ihren Bauch – nein, sie blutete nicht. Eine Zuckung, ein flüssiger und parfümierter, autonomer Krampf, der ihrem Körper einer kleinen, rekonstruierten Frau fremd war, hatte ihr Becken heimgesucht. Die Fortsetzung? Durfte sie um die Fortsetzung der halluzinatorischen Erinnerung bitten? Kannte der Vorführer der Memoschmerzen sie? Hielt er eine Filmrolle mit einer bislang unbekannten Sequenz dieser Vergangenheit in Reserve?

»Warum?« fragte sie immer noch, als sie den Film verließ. Ja, warum? Was zugeben? Was tun? Was opfern, um frei zu sein? Und was verkünden, um die Erregung eines menschlichen Schmerzes noch einmal zu erleben? Auf diese letzte Frage hatte sie teilweise eine Antwort gefunden: es genügte, Algie, den Verteidiger, zu widerlegen. Anschließend lösten sich die Vergeltungsmaßnahmen von selbst auf, und ihr androider Körper mußte sich Beleidigungen gefallen lassen, die eines gewissen Reizes nicht entbehrten. Doch – letzten Endes – warum?

»Das müssen Sie schon selbst herausfinden, kleine Eva«, erwiderte Algie, als sie die Vorführung verließen.

Aber was herausfinden? Sie vergaß automatisch, was sie wiedererlebt hatte. Sie erinnerte sich nur noch an die Titel der einzelnen Episoden: die ersten Monatsblutungen, die Entjungferung, der erste Liebesverrat usw. Alle Einzelheiten lösten sich auf, sobald die Memoschmerzen es so entschieden. Sie wußte, daß es einen Film gab, ein Skript, aber der technische Aufnahmeplan entzog sich ihr, sobald die Vergangenheit das Studio, die Zelle stürmte.

Der einzige Vorteil dieser fortwährenden, in systematischer oder unsystematischer Reihenfolge ablaufenden Rückkehr in die Vergangenheit war das Erlangen der Fähigkeit, einen Geistesblitz lang ihren gegenwärtigen Körper zu verabscheuen, die einsdreißig kleine schrumpelige Frau, die dank hochtechnisierter Methoden am Leben gehalten und aus Gründen, die zu analysieren ihr nicht gelang, hundert Meilen von der Erde entfernt gefangengehalten wurde. Die Fetzen ihrer Vergangenheit drängten sich ihr mit der Zeit auf, zeigten sich trotz der gepanzerten Tür, die der Scharfrichter hinter ihr schloß, nach dem Ende jeder Vorführung immer wieder hartnäckig in ihrem Gesichtsfeld. Eines Tages würde es einem dem Wesen nach menschlichen Detail gelingen, sich in ihre Mischlingsnatur einzuschleusen und den schleimigen Pakt, den sie mit den Wissenschaftlern geschlossen hatte, aufzulösen. Möglicherweise würde sie sich daraufhin selbst zerstören, doch zumindest würde sie dann begreifen, aus welchen Gründen sie ihr vorgeschlagen hatten, weiterzuleben …

»Die Sitzung ist aufgehoben …«

Das Gericht machte eine Pause. Das Kino änderte sein Programm, der Vorführer legte eine neue Filmrolle ein.

Algie schien zu meditieren – mit dem Kopf im Nacken und fast gänzlich geschlossenen Augen saß er da und schien auf den sinnlichen Rasierpinsel des Barbiers zu warten. Doch er war bartlos, und seine Körperpflege war nichts als Attitüde. Keine Creme breitete sich auf seinen bronzenen Wangen aus, kein Rasierapparat berührte ihn – nur ein hinter seinem Rücken, in der Nähe der Rohre angebrachtes Pseudopodium entfernte von Zeit zu Zeit den beinahe rußigen Staub der abbröckelnden Patinabläschen.

Gab Algie, der Unveränderliche, vor, diese Alterssymptome nicht zu sehen? Oder war es der Versuch, die kleine Eva glauben zu lassen, er wäre sehr wohl verwundbar? So wie sie, so wie am Ende alle künstlichen Wesen, die mit Sicherheit eher unerschrocken als unverwüstlich waren.

»Kleine Eva …«

»Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Gehen Sie zurück an Ihren Platz. Die Verhandlung wird fortgesetzt …«

»Laß mich schlafen, Bronze.«

»Das Gericht würde Ihnen das erlauben, wenn Sie träumen könnten …, aber das ist unmöglich, nicht wahr?«

»Eines Tages wird es mir gelingen …«

»Meinen Sie das im Ernst?«

»Ja …«

»Nichts weiter als kümmerliche Reste der Retrospektive …«

»Nein …, ich sehe eine Mauer.«

»Eine Erinnerung, die Teil einer Memoschmerzen-Sequenz ist …«

»Nein …, ich sehe eine Mauer … eine Abgrenzung vor dem Himmel.«

»Sind Sie ganz allein?«

»Nein …, es ist noch jemand da.«

»Sagen Sie mir seinen Namen!«

»Ich weiß seinen Namen nicht …«

»Kleine Eva … Würden Sie mich nicht belügen, so könnte ich das Gericht durchaus bitten, Ihnen einen gewissen Aufschub zu gewähren.«

»Ich lüge nicht, ich glaube …«

»Träumen Sie, kleine Eva, anschließend werden wir uns über die Mauer unterhalten …«

Die kleine Eva streckte sich auf dem Bett ihrer Zelle aus und genoß ihren Sieg. Ich gewinne Zeit, ich stehle Zeit, sagte sie sich stolz. Und voller Entsetzen dachte sie daran, daß die Tatsache, daß sie die Maschine belogen hatte, früher oder später entdeckt werden würde.

Die Mauer? Ja, es stimmte, sie hatte eine Mauer gesehen, aber möglicherweise handelte es sich, wie Algie angedeutet hatte, um die Überbleibsel eines Saineten aus ihrer Vergangenheit. Um ein ungewöhnliches, aber tatsächlich existierendes Phänomen, das auf die Hartnäckigkeit ihrer Netzhaut zurückzuführen war.

Sie schloß die Augen, um Schlaf vorzutäuschen. Träumen? Wovon träumen? Ihr Geist bewahrte keine Erinnerungen auf. In ihrem Roboterfleisch gab es keine Spuren von Leben, Wünschen, Freuden, Tränen – ihr Geschlecht, ihr Unterleib, ihre Brüste waren emotionelle Attrappen. Sie bewegten sich nicht, gärten nicht, spürten niemals das Verlangen, berührt zu werden. Die Wissenschaft konnte sich rühmen, sie ihrer Weiblichkeit enteignet zu haben. Die Wissenschaft und die Wissenschaftler. Denn deren Wunsch, eine Frau ohne weibliche Eigenschaften zu erschaffen, ließ sich nur durch ihre Frauenfeindlichkeit erklären. Um es zu wagen, die Frau jeglicher Leidenschaft zu berauben, mußten sie ganz einfach davon überzeugt sein, daß alles Weibliche auf ewig verdammt ist. Zunächst einmal dieser Name: kleine Eva – so als sei ihre Wiedergeburt in einem künstlichen Körper zwangsläufig mit einer zweiten Erbsünde verbunden. Auf alle Fälle waren die mythologischen Schäden weit davon entfernt, aus dem männlichen Unterbewußtsein gelöscht zu werden. Obwohl man sie als medizinisches Wunder des neuen Jahrtausends gefeiert hatte, war sie, weil sie nach wie vor unter männlicher Vormundschaft stand, genauso nackt wie die erste Eva.