Widersprüchlicherweise erlangte sie ihre weiblichen Merkmale gerade während der Memoschmerzen-Sequenz wieder. Der Erinnerungsapparat erlaubte ihr, eine Zeitlang Fleisch, Exkrement, Blut, Pisse, Eiter, Saft, Geruch zu werden, auch wenn ihr synthetisches Hirn sich dessen anschließend nicht mehr entsinnen konnte. War Algie sich bewußt, daß er sie überglücklich machte, wenn er auf einen Knopf der Vorrichtung drückte?
Wußte er, daß der wahre Schmerz das Vergessen ist – der Verlust ihrer Unschuld beispielsweise war in keiner Weise mit der Qual vergleichbar, die sie über den Verlust ihres Gedächtnisses empfand: sie durchlebte diese Episode noch einmal mit der Unbekümmertheit ihrer sechzehn Jahre, mit der Spontaneität jenes Augenblicks. Aufgrund des Titels wußte sie, daß es sich um eine positive Filmsequenz handelte. Sie wußte, daß sie sich jedesmal genauso verhalten würde wie beim erstenmal.
Leider war diese Erfahrung nicht übertragbar. Keine emotionalen Schlacken lagerten sich ab. Der Filter ihrer künstlichen Erinnerung hielt die Vergangenheit zurück. Der Teer drang nicht durch das Sieb, der Geschmack löste sich auf: einen ehemaligen Menschen kann man nicht vergiften.
Frustration. Unmenschliche Frustration, die durch die Hoffnung kompensiert wurde, erneut dumpf, wie ein Mensch gefoltert zu werden. Unmenschliche Frustration, kompensiert durch die Hoffnung, von einem menschlichen Pfeil durchbohrt zu werden.
Sie überlegte zuviel. »Du denkst zuviel nach«, sagte sie sich, »es gelingt dir nicht zu träumen …« Träumen hätte nämlich bedeutet, daß sie in der Lage gewesen wäre, das Informelle, das Auszulöschende in Frage zu stellen und sich von den endlos wiederholten Bildern verwirren zu lassen.
Sie öffnete die Augen, um zu sehen, was Algie gerade tat, und mit einemmal bedauerte sie ihre kleinen, gegen ihn gerichteten Seitenhiebe. Und wenn er sich rächen würde? Und wenn er sich eine Folter ausdenken würde, um sie zu bestrafen – eine Folter, die ihre menschliche Seite leugnen würde?
»Sie schlafen nicht mehr, kleine Eva …«, sagte er.
»Doch, doch …«
Sie hörte sich stottern und drehte sich auf den Bauch, um seinem Blick auszuweichen.
»Haben Sie geträumt?«
»Ja …, ich träumte, du würdest mir einen Arm abschneiden.«
Algie lachte. Sein mächtiger Buddha-Leib wiegte sich in den Hüften. Die kleine Eva fragte sich, ob er sich von ihren Lügen täuschen lassen würde.
»Ich kann Sie beruhigen, kleine Eva: an Androiden nimmt man keine Amputationen vor.«
»Ja, das weiß ich, so lautet das Gesetz … aber trotzdem!«
»Oh! Sie haben nichts zu befürchten, ich versichere Ihnen, daß die Androiden absolut unteilbar sind. An ihnen Amputationen vorzunehmen würde bedeuten, den Staat, den Staatskörper zu amputieren …«
»Ja, das weiß ich. Das ist in meinem Hirn archiviert: Teil des Staates, Teil der unteilbaren Republik, wie alle Androiden der Generation 10 … Aber wieso habe ich davon geträumt?«
»Um mich in die Irre zu führen.«
Algie lachte erneut.
»Haben Sie keine Angst … Ich bin nicht im Dienst!« fügte er gutmütig hinzu. »Ich habe mich abgeschaltet. Das wird keine nachteiligen Folgen haben … Doch ich rate Ihnen, hören Sie auf mit dem Feuer zu spielen.«
Die kleine Eva merkte, daß sie ganz blaß wurde.
»Meine Organe dienen mir zu nichts!« erwiderte sie schroff. »Sie sind nur noch ein Vorwand!«
»So dürfen Sie nicht denken: Ihre anatomische, ihre genitale Unversehrtheit hat einen Sinn …«
»Glaubt ihr, daß ich etwas fühlen kann … die Libido …?«
»Wunderbar.«
»Wieso wunderbar?«
»Sie sind auf dem richtigen Weg … Ich werde das Gericht um einen zusätzlichen kleinen Aufschub bitten … Schließlich gefallen Ihre Lügen mir sehr!«
Algie wandte den Blick ab und griff nach seiner Pfeife. Er verbarg sein rundliches, zufriedenes Gesicht hinter seinen Händen, die die rituellen Gesten des Rauchers imitierten, der Tabak in den Kopf seiner Pfeife stopft. Wieder einmal hatte die kleine Eva den Eindruck, in ein englisches Pub versetzt worden zu sein.
Eine Rauchwolke, die größer und dichter war als gewöhnlich, füllte die Zelle. Von Algie waren nur noch die Umrisse zu sehen.
Die kleine Eva spürte ein Stechen in den Augen. An diesem Punkt brennt der Tabak stets in den Augen, dachte sie, denn meine Augen sind besonders empfindlich … So wie auch ihre übrigen Sinne: ihre Schöpfer hatten sie mit den fünf traditionellen Sinnen ausgestattet, die genausogut ausgebildet waren wie bei einem menschlichen Wesen. Mit der Sinneslust allerdings haperte es beträchtlich! Sie war nicht vorgesehen!
Sie streckte sich auf dem Bett aus und ließ die Hände zwischen ihre Oberschenkel gleiten – die Libido, gab es die Libido noch? War es ihr gelungen, durch die Panzertür einzudringen? War sie DAS Detail, das sie so sehr beeindruckt hatte, das den empfindlichen Teil ihres Hirns im Verlauf der unentwegten Rückkehrbewegungen so sehr beeindruckt hatte? Das schockierende Detail inmitten der ständig wiederkehrenden Erinnerungen, das die an Gedächtnisschwund Leidende ins Schwanken brachte …?
Dabei wird mir weder warm noch kalt, sagte sie sich, als sie sich streichelte. Doch dann kam ihr ein ganz bestimmter Gedanke, die springende Idee: sämtliche Elemente ihrer Vergangenheit als Mensch, die im Memoschmerzen-Apparat zwischengelagert waren, hatten ausschließlich mit ihrem Geschlechtsleben zu tun. Sogar ihr Tod, ihr Gebärmutterkrebs, der sie um ein Haar im besten Alter dahingerafft hatte.
Was beabsichtigte ihr Richter, ihr Scharfrichter, damit, immer noch auf diese Vergangenheit zu verweisen? Wollte er sie, indem er ihr ständig neue Dosen jener Merkmale (außer dem Krebs) verabreichte, die ihren Lebensweg als Frau begleitet hatten, für die Wissenschaftler entschädigen, die sie ihrer Weiblichkeit beraubt hatten? In gewissem Sinne eine Abfolge archetypischer Geburtstage …
»Bronze, laß mich den ›ersten Liebesverrat‹ wiedererleben …«, bat sie.
Algie antwortete nicht. Er qualmte wie ein alter, unerschütterlicher Indianer.
»Was genau ist das überhaupt, die Libido?« fuhr die kleine Eva fort.
Diesmal erwartete sie keine Antwort. Mit dem Zeigefinger berührte sie ihr Geschlecht. Komm, Libido, sei lieb und komm …, stachele meine Hoffnung an. Doch sie empfand nichts Besonderes. Sie schloß die Augen, um ihre unpassenden Tränen zurückzuhalten. Wie kann man der Abstraktion entgehen? Wie vor Lust erzittern ohne Erinnerungen?
Sie sah die Mauer. Was symbolisierte sie? Welches Echo ihres Lebens prallte an ihr ab? Der palingenetische Film, der ihretwegen gedreht worden war, mußte doch eine Bedeutung haben. Ihre Peinigung mußte doch Teil einer bestimmten Strategie sein. Doch welcher?
Die kleine Eva war völlig entnervt und weinte. Sie begriff nicht, um welche Intrige es in dem Film ging, sie verstand die Wörter der alten Leier nicht, die von den Wänden ihres stummen Zimmers, ihres stummen Gedächtnisses erstickt wurden.
»Bronze, was ist Liebe?«
Vorsichtig legte Algie seine Pfeife beiseite. Dabei lächelte er wie ein guter Familienvater.
»Ich weiß nicht … Irgend so ein Ding der Menschen.«
»Drück auf die Memoschmerzen-Maschine, Bronze … Auf irgendeinen Knopf.«
»Dazu ist jetzt nicht der richtige Moment. Die Verhandlung wird gleich fortgesetzt, kleine Eva …«
»Bitte, Bronze, hab Mitleid mit mir, drück …«