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»Ich kann mich nicht in dem Maße über die Vorschriften des Berechnungsgesetzes hinwegsetzen … Meine Zeit als Richter hat begonnen. Es tut mir leid …«

Algie verwandelte sich in den Richter. Mit strengem Blick musterte er sie von Kopf bis Fuß.

»Angeklagte, erheben Sie sich!« befahl er.

Die kleine Eva erhob sich und wischte sich die Tränen ab.

»Wir waren bei ihren Kontakten stehengeblieben«, stellte Algie bissig fest. »Sie hatten Kontakt mit Menschen?«

»Nein. Seit ewigen Zeiten bin ich keinen Menschen mehr begegnet …«

»Aber Androiden?«

»Ja.«

»Androide, die von der Polizei gesucht wurden!«

»Ich hatte gute berufliche Verbindungen zu …«

»Sie antworten nicht auf meine Frage.«

»Deine Frage ist idiotisch!«

»Magistratsbeleidigung! Noch eine solche Bemerkung, und …«

»Was und?«

»Und ich lasse …«

»Und du läßt den Gerichtssaal räumen! Dann werden nicht mehr viele übrigbleiben …«

»Keine Frechheiten, oder …«

Algie, der Richter, stotterte unmerklich. Er suchte nach einer Entgegnung, doch das Verhör war zu schnell für die Funktionen, mit denen man ihn ausgestattet hatte.

»Schluß mit diesem skandalösen Benehmen, oder ich lasse Sie einsperren«, schrie er zornig.

»Ich sitze bereits im Gefängnis.«

»Antworten Sie auf meine Frage: Hatten Sie Kontakt zu diesen Flüchtigen?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Sie haben einem von ihnen geholfen …«

»Laßt die Zeugen eintreten!«

»Welche Zeugen?«

»Diejenigen, die von meinem Anwalt vorgeladen wurden!«

»Ihr Anwalt erhält demnächst das Wort. Ich bin derjenige, der hier die Befehle erteilt!«

»Das ist gesetzeswidrig!«

»Das ist völlig legal!«

»Ich habe das Recht auf einen öffentlichen Prozeß!«

»Nein. Sie sind künstlich: die Androiden werden stets hinter verschlossenen Türen abgeurteilt!«

»Ich protestiere, Euer Ehren!«

»Wache!«

Algie richtete sich auf. Er hatte Lust, sich in einen Polizisten zu verwandeln – und saß auf einmal völlig sprachlos da. Was tun? Seine Zeit war noch längst nicht vorbei.

»Der Flüchtige, dem Sie geholfen haben«, fuhr er fort, »war krank … Sie haben ihn gepflegt. Diese Tatsache können Sie nicht leugnen!«

»Ein Flüchtiger oder eine Flüchtige?«

»Weichen Sie bitte nicht vom Thema ab … Die Androiden sind allesamt androgyn!«

»Alle außer mir!«

»Antworten Sie auf meine Frage!«

»Ich weiß es nicht.«

»Seine Apparate waren degeneriert: die berühmte multiple Sklerose … Können Sie sich noch immer nicht erinnern?«

»Die multiple Neurose, sagst du?«

»Antworten Sie auf meine Frage!«

»Ich erkläre das Gericht für nicht zuständig!«

»Das Gericht ist zuständig! Antworten Sie auf meine Frage!«

»Du bist ein furzendes Arschloch!«

»Scharfrichter!«

Vor Wut bekam Algie, der Richter, fast keine Luft mehr. Die Memoschmerzen überkamen die kleine Eva – übergangslos, ohne Ankündigung. Auf der Leinwand erschien jene Sequenz, die sich auf die letzten Tage ihrer menschlichen Existenz bezog.

Film ab. Das erste Bild zeigte sie, wie sie sich vor lauter Schmerzen auf dem Sofa wand. »Nierenkoliken, rasende Koliken«, sagte ein über sie gebeugter Arzt grinsend. Sie fühlte, wie sie ganz weich und dann ganz hart wurde. Sie wollte ohnmächtig werden, doch es gelang ihr nicht. Der Arzt bat sie, ihre Gefühle zu beschreiben, doch dazu war sie nicht in der Lage. Der Schmerz, der ihre Nieren lähmte, ihre Knochen durchfeilte, ihre Blase zersägte, hatte sie in eine Welt ohne Wörter getaucht. Das einzige, was sie sagen konnte, war ein verschämtes »Es tut mir so weh«. Der besorgte, gereizte Arzt ließ sie abtransportieren. Krankenwärter holten sie aus der Ambulanz. Ihr Bauch weigerte sich, als sie sich auf der Trage auszustrecken versuchte. Er trennte sich von ihrem übrigen Körper: er stolperte über die anderen Tragen wie eine Figur aus einem Zeichentrickfilm. Ein krampflösendes Mittel trug dazu bei, daß er sich erneut mit den restlichen Teilen ihres Körpers verband. Sie döste ein, fuhr auf einem Kamerawagen durch den Krankenhausflur, die unzähligen Stäbe der vergitterten Betten machten sie ganz schwindelig. Sie wurde untersucht, war halb wach, halb benommen von den Arzneien, die man ihr verabreicht hatte. Man weckte sie brutal. »Ihre Röntgenaufnahme …!« schrie der Assistenzarzt sie an und rüttelte sie. Sie begriff nichts, man schlug ihr ins Gesicht, gab ihr eine Spritze in den Arm. »Madame, Sie haben einen Tumor …«, dozierte der Assistenzarzt und deutete auf einen weißen Punkt auf dem Röntgenbild. Tumor? Der Chef kam und erklärte arrogant, es handle sich um eine gutartige Geschwulst. Ihr Unterleib wurde ganz kalt. Vor lauter Angst wurde ihr Unterleib ganz hart. Komplizierte Wörter drangen an ihr Ohr. Metallene Zungen leckten sie ab. Augen, groß wie Bullaugen, untersuchten sie ohne jede Scham. Sie wurde bestrahlt, doch nichts leuchtete auf. Sie wurde mit dicken, langen Nadeln ins Gesäß gestochen. Es roch nach Jod. Der Nacken tat ihr weh. Ihre Schilddrüse pulsierte wie ein in kochendes Wasser geworfenes Ei. Ihr Hals schwoll an und wieder ab wie eine Rohrpfeife. Unter ihrer Haut wuchs ein Kropf, ihre Kehle blähte sich auf wie eine heftig atmende Kröte. Sie roch das Jod. Ihr wurde übel. Sie übergab sich. Sie verschluckte ihre Zunge. Auf … Ab … Die Schilddrüse spielte ihr dumme Streiche, auf … und ab … Die Mannschaft der Nachtschicht ersetzte die Mannschaft der Tagesschicht, doch die eine versuchte nicht, der anderen zu begegnen – der Schlaf war nicht auf halber Strecke, in der Mitte, am Nullpunkt. Er pendelte ebenfalls hin und her. Mal mehr, mal weniger. Das Mehr und das Weniger waren zwei Gegner und gaben ein höchst lästiges Pärchen ab. Sie wußte nicht, wie sie sich ihrer entledigen sollte. Sie träumte, sie würde sich aus dem Fenster werfen. Das Mehr fing sie im Flug auf. Das Weniger betäubte sie von hinten. Die Angst ging rückwärts durch ihr narkotisiertes Gehirn. Das Mehr griff von neuem an … Mehr … Weniger … G-F … G-F: zwei Oktavnoten, die wie Komplizen ihrer durchwachten Nächte trällerten und auf der empfindlichen Kugel klimperten. »Schneidet mir den Hals auf!« brüllte sie mit erstickter Stimme. »Wir werden Sie operieren«, erwiderte der Chor der Ärzte, »allerdings mit dem Unterleib …« Sie fühlte sich einigermaßen erleichtert. Leute kamen in ihr Zimmer – ein Ehemann, ein Kind, Freunde? Auf dem Bild waren ihre Gesichter nicht zu sehen. Das Wort KREBS schwebte über ihnen wie ein übler Furz, für den niemand verantwortlich sein will. Der Assistenzarzt erklärte mit leiser Stimme, was man mit ihr machen würde. Mit einemmal sackte sie weg. Sie wurde wach, bekam fast keine Luft, ihr Mund fühlte sich teigig an, sie wälzte sich in den Laken wie ein bettlägeriges Weichtier. Der Ehemann war nicht anwesend. Ebensowenig der Sohn, die Tochter. Auch an diesem Punkt der Vorführung fragte sie sich immer noch, ob sie eine sichtbare Existenz gehabt hatten und diese Personen bei der Montage des Films hinzugefügt worden waren. Von neuem nahm sie sich vor, das beim nächstenmal zu überprüfen. Doch natürlich hatte sie das bei der nächsten Vorführung wieder vergessen. Sie war außerstande, das Erscheinen des Ehemannes, des Kindes im Bild vorauszusehen. Sie traten in einer Sequenz auf und verschwanden wieder, ohne Spuren zu hinterlassen. Verlorenes Kind? Verschwundener Ehemann? Sie stellte sich Fragen über ihn, stellte sich das Gesicht des Ehemannes von seiner Stimme ausgehend vor. Sie konnte sich Fragen stellen, konnte ihn sich vorstellen: einige Sequenzen lang litt sie keine Schmerzen, da sie nach wie vor unter der Wirkung der Narkose stand. Sie blätterte sogar in Zeitschriften, in Comic-Heften, in dem erfolgreichsten Titel des Jahres: Das Buch der Vorhersagen, das im Jahre 2005 aktualisiert worden war und in dem die Heilung sämtlicher Krebserkrankungen für das Jahr 2010 prophezeit wurde. Doch sobald ihr Körper gänzlich aus der Narkose erwacht war, verjagten fürchterliche postoperative Schmerzen das Bild des Ehemannes – sie schrie, die Bücher fielen zu Boden, sie biß in das Laken, da ihre Eingeweide sich weigerten, die Gase, die sich im Verlauf des chirurgischen Eingriffs gebildet hatten, aus ihrem Körper austreten zu lassen. In ihrem Unterleib rumorte es. »Drücken Sie, drücken Sie endlich, Madame …!« riet ihr die Krankenpflegerin. »Blähsucht«, diagnostizierte der diensthabende Assistenzarzt. Er war freundlich zu ihr, erklärte ihr auf freundliche Art und Weise, was eine Hysterektomie ist. Sie war gerettet. Ihr Bauch aufgebläht? Nach wenigen Tagen wäre das vorbei … Der Ehemann kehrte zurück, der Sohn oder die Tochter kehrte zurück – sie kamen ihr rätselhaft, undeutlich vor. Sie erkannte ihre Besucher nicht wieder. Ihre Unterleibsschmerzen ließen nach. Man sagte, während der Genesungszeit wäre sie sehr schwach, wegen der Qualen. Doch eine Zeitschleife lang peinigte der Film sie wieder. Von neuem schrie sie auf. Das Krebsgeschwür fraß sie bei lebendigem Leib. Sie kam unter das Messer. In aller Eile nahm man ihr alles heraus. Alles. Maskierte Menschen waren um sie herum beschäftigt. Man ersetzte ihr sämtliche erkrankte Organe, man mikroprozessierte ihre Seele. Ein Fernsehteam filmte diese große medizinische Premiere. Sie sah sich daliegen, schlaff, auseinandergenommen, entbeint. Spezialisten verpflanzten ihr im Handumdrehen einen Arm. Maskenbildner kneteten ihre Haut. Sie sah, wie sie schrumpfte, der Meßstab gab einen Meter und dreißig Zentimeter an. Der Chirurg machte einen zufriedenen Eindruck. Sie war kein Mensch mehr … Schlußklappe.