»Nicht!« kreischte Fips. »Du weißt nicht, was das ist, was es bewirkt!«
»Hör auf! Das ist kein Spaß mehr. Ich habe keinen Beipackzettel, und das Etikett sagt lediglich, es sei leichtes Wasser, ich muß es also riskieren.« Sie trank aus und setzte dann vorsichtig einen Fuß auf die Wellen. »Fluctuat nec mergitur«, wisperte sie.
»Was heißt das, was?« fragte Fips.
»Von den Wogen gepeitscht, geht es doch nicht unter.«
»Ich sehe schwarz, schwarz.«
Sie watete knöcheltief in der Ölschicht, doch das Wasser trug. Sie schwankte, aber wenigstens glättete das Öl die Wogen. Rutschend und schlitternd bewegte sie sich vorwärts. Das Wasser bot weniger Reibungswiderstand als Eis, und bewegte sich noch dazu auf und ab, hin und her, schlimmer als ein Wasserbett. Sie glitt aus, fiel hin, versank mit Knien und Händen in der zähen, klebrigen Ölschicht. Mühsam richtete sie sich auf. Vorsichtig, Schritt für Schritt, näherte sie sich der Insel. Immer wieder strauchelte sie, bis sie über und über mit stinkendem Öl bedeckt war.
Endlich setzte sie ihren Fuß auf die verschmutzten Felsen. Ein hölzernes Schild stand dort, verwittert und flechtenbewachsen. Die Schrift war kaum zu lesen: Insel der gelöschten Datenträger. Gwendolyn schnaubte.
Sie ging daran, den Steilhang zu erklettern. Es begann wieder zu regnen. Der glitschige Fels machte den Aufstieg nicht leichter. Binnen kurzem war ihr Wams durchnäßt und klebte klamm an ihrer feuchten Haut. Ihr Haar wurde schwer vom Wasser. Fips flatterte um sie herum und wies sie auf sichere Tritte und Griffe hin, krallte sich ins Gestein, prüfte hier und da den Halt.
Eine Wurzel, an der sie sich festhielt, löste sich. Erdklumpen stürzten polternd in die Tiefe, nur mit Mühe fand sie ihr Gleichgewicht wieder. Fips schlug entsetzt einen Rückwärtssalto. Er fiel in Ohnmacht und trudelte abwärts. Gwendolyn schrie. Nur wenige Spannen über dem Boden kam der Drache wieder zu sich, flog einen Looping und schraubte sich nach oben. Er blinzelte benommen.
»Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!« sagte Gwendolyn. »Mach so etwas nie wieder!«
Vorsichtig setzte sie den Aufstieg fort. Endlich erreichte sie die Kante der Klippe, wälzte sich darüber und erhob sich.
»O, oh.«
Ein Rudel Tolltrolle umringte sie. Sie kauerten auf kurzen Beinen und doppelt so langen Armen, ihre Spanielohren reichten bis zum Boden. Stumpfes, zottiges Fell bedeckte ihren Körper. Zwischen spitzen, rachenbedeckenden Zähnen, die aussahen, als hätten die Trolle einen umgestülpten Igel im Maul, stießen sie ein böses Knurren aus, ihre Katzenaugen leuchteten gefährlich.
Langsam und vorsichtig öffnete Gwendolyn ihre Satteltasche, wickelte die Hostien aus dem Ölpapier und warf sie den Trollen vor. Sie schnupperten mißtrauisch daran.
»In nomine patri et filii et spiritus sanguinei«, flüsterte Gwendolyn fast lautlos.
Die Oblaten verwandelten sich. Keifend und fauchend stürzten die blutgierigen Tolltrolle sich auf den Köder, zeternd stießen und kratzten sie sich, da jeder dem andern diese Leckerbissen mißgönnte.
Gwendolyn schenkten sie keine Beachtung mehr, und sie machte, daß sie davonkam.
Nach einer Weile entdeckte sie einen Pfad, dem sie folgte. Schließlich sah sie von einem Hügel aus ein Dorf und ging darauf zu. Die Regenpfützen waren mit einer dünnen Eisschicht bedeckt, die mit jedem ihrer Schritte knirschend brach.
Das Dorf bestand aus behelfsmäßig wirkenden Wellblechhütten. Verwesungsgeruch hing in der Luft. Die wenigen Menschen, denen sie begegnete, waren ausgezehrt und wichen ihrem Blick aus. Schmutzige, trotz der Kälte nackte oder nur in ein paar Lumpen gehüllte Kinder, nur Haut und Knochen und aufgedunsene Bäuche, starrten sie teilnahmslos an. Auf einem Platz in der Dorfmitte brannte ein großes Feuer.
Sie ging auf einen alten Mann zu, der vor einer Hütte saß und auf einem dicken, fleischigen Blatt kaute, und grüßte ihn.
Er spuckte aus. »Verschwinde! Gesindel wie dich können wir hier nicht gebrauchen!«
»Kerl! Weiß Er denn nicht, wen Er vor sich …?« Sie stockte. Natürlich bot sie in ihren öl- und schlammbesudelten Kleidern keinen allzu vertrauenerweckenden Anblick, nicht einmal hier. Und Prinzessinnen-Gehabe war längst nicht mehr angebracht. Sie nahm eine Handvoll Golddukaten aus der Satteltasche und ließ sie klingend auf das Faß fallen, das vor ihm stand.
Wie eine Schlange stieß seine Hand danach, seine Augen blitzten. »Was will Sie hier?« fragte er, nun etwas höflicher.
»Nur eine Auskunft, nichts weiter. Hier auf der Insel soll es eine Höhle geben. Kann Er mir den Weg dahin weisen?«
Er schlug die Augen nieder. »Scher Sie sich weg! Wir brauchen keine Almosen.«
»Ja, geh Sie dahin zurück, wo Sie hergekommen ist!« Unbemerkt hatten sich weitere Dörfler um sie gesammelt. »Weg von hier!« – »Solche Leute wollen wir hier nicht haben!« – »Elendes Gesindel!«
Der Wind drehte sich und wehte beißenden Rauch vom Feuer herüber. Es roch nach verbranntem Fleisch.
Fips keckerte.
»Merkt Sie nun, daß Sie hier unerwünscht ist?« fragte der Alte. »Ihr Gold heilt uns nicht, und es macht uns nicht satt. Wir wollen nichts, als täglich unsere Algen ernten und in Ruhe gelassen werden.«
Gwendolyn horchte auf. »Algen? Aber das Öl …«
»Das ist die göttliche Strafe für unsere Sünden.« Er hob den verklärten Blick zum Himmel. »Ebenso wie die Pestilenz.«
Sie wandte sich um, schob sich durch die Menschenmenge und verließ das Dorf. Ein paar Kinder liefen ihr nach und bewarfen sie mit Schlamm.
Gwendolyn folgte dem Weg. Sie war hungrig und erschöpft, doch sie ging weiter. Die Kälte stach ihr in die Glieder. Selbst der Gestank ihrer Kleider war kaum mehr zu ertragen.
Es wurde bereits dunkel, da trat plötzlich ein Moosweiblein aus dem Wald. Es nickte grüßend mit wippendem Püschel.
»Ich freue mich, dich zu treffen«, sagte Gwendolyn. »Weißt du vielleicht, ob es hier eine Höhle gibt?«
Das Moosweiblein kicherte. »Die kenn’ ich, aber ja. Geh diesen Weg weiter, bis du zu einem Bach gelangtest. Diesem folgtest du. Er mündete in einen Fluß. Überquere ihn. Du sahst dort eine alte Buche, die der Blitz spalten wird. Geh an ihr vorbei, und nach tausend Schritten kamst du ins Tal der erloschenen Lichter. An dessen Ende fandest du die Höhle, die du suchst.«
Kichernd verschwand das Moosweiblein zwischen den Bäumen.
Gwendolyn ging weiter, fand den Bach, und dort, wo er in den Fluß mündete, sah sie im Licht der drei Monde am gegenüberliegenden Ufer den vom Blitz zerstörten Baum. Nirgendwo war eine Furt oder gar eine Brücke zu sehen. »Und nun?« fragte sie. »Ich glaube, wir machen erst einmal Rast.« Ihre Füße schmerzten. Sie kniete nieder, trank etwas von dem kalten Wasser, obwohl sie wußte, daß dieses Blendwerk nicht ihren wirklichen Durst – den von Alyssas Körper – stillen konnte. Sie sammelte Bruchholz, errichtete aus großen Steinen eine Feuerstelle und ließ Fips Flammen speien.
»Vielleicht sollte ich mich vergrößern, um einfach einen Schritt über den Fluß zu machen.« Sie wärmte die ausgestreckten Hände am Feuer.
»Lieber nicht, lieber nicht, das ist doch Verschwendung!«
»Du hast recht. Aber ist das nicht merkwürdig: magische Utensilien scheinen Ereignisse zu provozieren; wenn ich Zauberbohnen hätte, müßte ich sicherlich irgendeinen Berg ersteigen.«
»Das mußtest du auch so, ohne Bohnen – die Klippen, die Klippen.«
»Sicher, ich sage nicht, daß für jedes Hindernis ein Zauber zur Hand ist – es ist umgekehrt: jeder Zauber zieht ein passendes Problem an. Wären die Tolltrolle auch aufgetaucht, wenn Leberecht mir keine Hostien gegeben hätte?«