Als sie an Land gingen, versuchte North, sich vor Joe Jackson hinter anderen Passagieren zu verbergen, aber der dünne Mann erschien gleich darauf an seiner Seite. North zeigte keine Reaktion. Er wollte sich ganz und ohne Ablenkung Philae hingeben. Dies war sein letzter Abend in Ägypten.
»Da ich von Beruf Leichenbestatter bin, habe ich das Studium der alten Ägypter zu einer Art Steckenpferd gemacht«, sagte Jackson. »Sie waren ein wundervolles Volk. In der Kunst des Einbalsamierens waren sie unvergleichlich. Unvergleichlich.«
Wieder schüttelte er den Kopf, als wollte er sich selbst Lügen strafen.
»Sie hatten Geheimnisse und Techniken, die uns heute trotz all unserer modernen Fortschritte unbekannt geblieben sind. Manche Fachleute glauben, sie hätten mit Magie gearbeitet. Vielleicht war es so.« Er gluckste. »Natürlich hatten sie Götter und Göttinnen für alles. Ich weiß einiges über sie. Zum Beispiel ist diese Insel Philae der Göttin Isis geweiht, die in dieser Gegend über tausend Jahre lang verehrt wurde … Sie war eine raffinierte Person, wenn man so sagen darf.«
North stieg schweigend die Stufen hinauf.
»Philae ist der Isis geweiht«, wiederholte sich Jackson. »Wahrscheinlich wissen Sie das aus dem Reiseführer. Wie lange sind Sie und Ihre Gattin schon in Assuan?«
»Zwei Tage.«
»Zwei Tage. Ist das alles? Was haben Sie bisher gesehen?«
»Nichts, wir haben uns ausgeruht, Mr. Jackson, haben uns am Beckenrand einen schönen Tag gemacht. Was interessiert es Sie?«
»Sie und Ihre Gemahlin sind am Rand einer wundervollen Welt. Verschwunden und untergegangen, aber auf geheimnisvolle Weise immer noch hier.« Sein Ton ließ erkennen, daß er keinen Anstoß an Norths abweisendem Verhalten nahm; Langweiler und Wichtigtuer können es sich nicht leisten, Anstoß zu nehmen. »Bei Tag liegt Ägypten wie ausgelöscht unter der Sonnenglut. Das Licht ist ganz anders als in Florida. Dann steigt man hinunter in die Dunkelheit der Grabkammern und plötzlich öffnet sich ein wundervolles farbiges Bilderbuch der Vergangenheit. Götter, Göttinnen, Menschen, Tiere, alles. Natürlich sind es keine christlichen Darstellungen, aber sie sind wunderbar. Lassen Sie sich das nicht entgehen.«
»Morgen früh muß ich wieder in Genf sein«, sagte North.
An der niedrigen Wand zu ihrer Linken brannten Fackeln in eisernen Haltern und tauchten die Wasser jenseits davon in stygisches Halbdunkel. Die Besucher waren vom Rest der Welt abgeschnitten. Als sie die Stufen erstiegen, kamen mehrere imponierende Steingebäude in Sicht. Selbst Jackson verstummte. Eine Feierlichkeit ergriff alle Besucher, als ob sie nicht bloß Touristen auf der Suche nach etwas mehr als Sonnenschein und oberflächlicher Zerstreuung wären, sondern Pilger zu einem heiligen Schrein.
Als sie ebenen Boden erreichten, sahen sie mehrere Tempel vor sich, von versteckten Scheinwerfern angestrahlt und aus der Dunkelheit herausgelöst, die Wände geschmückt mit Darstellungen einiger der beliebtesten Götter: Horus, dem Falkenköpfigen, Hathor, Nephthys, der Schwester Isis’, und Isis selbst, schlank und aufrecht, mit entblößten Brüsten. Diese großen Gestalten hielten hier seit mehr als dreitausend Jahren Wache, eingemeißelt in den Stein mit einer Überzeugung, die ihnen Unsterblichkeit zu garantieren schien.
Über den Tempeln war es Nacht geworden. Die silbrig glitzernde Mondsichel stand am schwarzen Himmel, und nur im wolkenlosen Westen blieb ein Streifen altrosa Lichtes, der rasch verblaßte: die Farbe des Bedauerns.
Die Schönheit und Ruhe der Szene vor ihm, die zugleich etwas Tragisches an sich hatte, ließ North innehalten. Er wünschte, er hätte sie ganz für sich, ohne den aufdringlichen Jackson, ohne die anderen Touristen. Morgen hieß es zurück in die Hektik und den Druck des Warentermingeschäfts im Genfer Büro.
Die Versetzung zum Schweizer Büro hatte für den ehrgeizigen Oscar North eine Beförderung bedeutet. Winifred hatte die Gegend von Washington, wo ihre Familie lebte, nur mit größtem Widerwillen verlassen. Seither war es mit ihrer Ehe abwärts gegangen. Vielleicht sollte er zu Isis beten, dachte er unvermittelt, daß die Dinge sich besserten.
In der Menge anonymer Menschen ging er Jackson aus dem Weg. Wärter lenkten den Besucherstrom über eine gepflasterte Fläche. Weitere Feluken trafen am Landeplatz ein, tauchten aus der Dunkelheit auf, entließen weitere Besucher, die zur Schau gekommen waren. North ließ sich von ihrem Strom mitziehen und hielt Ausschau nach einer günstigen Position.
Er fand einen Platz bei der Absperrung, die Zuschauer zurückhalten sollte. Vor ihnen ragte der Tempel der Isis auf, davor eine mächtige Steinsäule aus der Zeit der ptolemäischen Pharaonen. Die zwei Türme waren so angestrahlt, daß die obersten Partien im Halbdunkel lagen, als wollten sie nach den Sternen greifen. North fand zu einem gewissen Maß innerer Ruhe, als er das Schauspiel auf sich wirken ließ; es war ein Gefühl, das er kaum kannte. Er dachte an das ehrwürdige Alter der Bauwerke, ihre massive Festigkeit und Anmut, und daß so viele Generationen von Wallfahrern auf dieser kleinen Nilinsel in der Verehrung der Göttin Frieden gefunden hatten. Noch immer herrschte eine Atmosphäre von Heiligkeit. Die Insel war ganz dem Denkmalschutz gewidmet; niemand lebte hier. Es gab keine Häuser oder Geschäfte, nur die majestätischen Ruinen.
Jackson war wieder an seiner Seite.
»Ich hatte Sie aus den Augen verloren, Mr. North. Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich bei Ihnen stehe? Ich bin nicht gern unter all diesen Fremden. Kann sein, daß ich mich als Leichenbestatter mehr an Leute gewöhnt habe, die das Zeitliche gesegnet haben.« Er lachte glucksend und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
»Es ist ein wunderbarer Ort«, sagte North.
»Wirklich schade, daß Ihre Gattin nicht mitgekommen ist.«
North war nicht bereit, sich in eine Diskussion darüber verwickeln zu lassen, was mit Winifred geschehen war.
Winny und Oscar North kamen vom Schwimmbecken des Hotels herein, suchten ihr Zimmer auf und duschten. Die Hitze draußen war beinahe unerträglich gewesen.
»Laß uns in die Bar gehen und ein paar Gläser trinken«, sagte er beim Haaretrocknen.
»Du hast schon draußen am Schwimmbecken die ganze Zeit getrunken. Hast du noch nicht genug?«
»Du hast ja die ganze Zeit mit dieser Frau geredet, wer immer sie war.«
»Sie ist nett. Sie kommt aus Arizona und bleibt volle zwei Wochen im Hotel. Sie erzählte mir …«
»Sie ist eine Nervensäge.«
»Oscar, du hast überhaupt nicht mit ihr gesprochen. Wie kannst du wissen, wie sie ist? Sie ist gut betucht, das kann ich dir sagen.«
Das Telefon läutete. Er ging rasch hin und nahm den Hörer ab.
Gleich darauf hielt er den Empfängerteil mit der Hand zu und machte ein Gesicht. »Ein Anruf aus Genf. Larry möchte mich sprechen. Kann nichts Gutes sein.«
Winny saß auf einer Sessellehne und zog sich einen Schuh an. Nun warf sie ihn zornig zu Boden. »Nein, nicht Larry. Sag ihm, du bist nicht zu Hause. Sprich nicht mit ihm. Sag ihm, er soll verduften.«
Aber Larry, Norths unmittelbarer Vorgesetzter, war an der Leitung, und Oscar hörte zu und lächelte und sagte: »Nein, ich freue mich, von Ihnen zu hören, Larry. Ganz im Gegenteil, großartig. Wie läuft es in Genf?«
Als er lauschte und seine Miene ernst wurde, ging Winny hinüber und lauschte auch.
»Aber die Armour-Aufstellung ist in Ordnung, Larry. Können Sie das nicht in die Hand nehmen, bis ich nächsten Montag zurück bin? Wir sind nur eine Woche fort.«
»Sie wissen, daß ich in Paris sein muß, Oscar«, sagte Larry beharrlich. »Wenn die falschen Leute von dieser Geschichte hören …«