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Stimme des Osiris: »Aber mein Bruder Seth war eifersüchtig auf mich und begehrte unsere Schwester Isis zu seiner Frau.«

Stimme der Isis: »Während du in fernen Ländern weiltest, o mein Osiris, ließ Seth eine Truhe von großem Wert machen, reich verziert mit Metallen und Juwelen von den besten Künstlern. Das Innere der Truhe entsprach genau deinen Maßen.«

Stimme des Osiris: »Beim Festmahl verkündete Seth: ›Derjenige, der sich in dieser Truhe niederlegen kann und genau hineinpaßt, ihm will ich die Truhe zum Geschenk machen.‹ Niemand konnte die Truhe gewinnen. Dann forderte mein Bruder mich auf, es zu versuchen. Ich tat es. Die Verschwörer schlugen über müden Deckel zu.«

Stimme der Isis: »O mein König, wie wurdest du gefangen! Flüssiges Blei wurde um die Verschlüsse der Truhe gegossen, so daß du leiden und sterben mußtest. Ich wußte, ohne daß man es mir sagte, daß du von dieser Welt gegangen warst. Seth warf deinen Sarg in den Nil, wo er zur See hinaustrieb und verlorenging. Meine Schwester Nephthys, die Frau Seths, gebar einen kleinen Jungen, den sie verließ. Die Hunde retteten ihn. Weil er den Kopf eines Schakals hatte, nannte ich ihn Anubis und kümmerte mich um ihn. Er wuchs heran und wurde ungestüm und treu und machte sich mit mir auf die Suche nach Osiris’ Leichnam.«

Stimme des Erzählers: »Die Suche der Isis wurde schließlich belohnt, und sie fand die Truhe, manche sagen, im Nildelta, andere behaupten, vor der Küste Syriens. Sie legte den Körper ihres toten Gemahls auf das Deck eines Bootes und segelte im Triumph heim.«

Stimme des Osiris: »So groß war ihre Liebe und ihre Wärme, daß sie mich für kurze Zeit wieder zum Leben erweckte. Ich kehrte zu dieser Welt zurück und war so angerührt von der Schönheit Isis’, als sie sich vor mir entkleidete, daß es mir gelang, sie zu mir zu nehmen und zu schwängern, bevor ich in die Unterwelt zurückkehrte, um dort als Herr über die Toten zu herrschen.«

Stimme der Isis: »So konnte ich die Linie der Götter fortsetzen. Mit Anubis’ Hilfe gebar ich im Frühjahr den Horus, der voll befiedert als ein Vogel meinem Leib entflog. Später sollte Horus seinen Vater rächen.«

Stimme des Erzählers: »Dieser frühe Auferstehungsmythos ist uns aus einer Epoche überliefert, bevor ausgebildete Religionen entstanden, aus den langen goldenen Tagen der Bronzezeit, als die Menschheit noch eins war mit der Natur und sie nicht tyrannisierte. Für ihre Stärke als Frau und Mutter wurde Isis hier auf Philae verehrt, ihrer Insel, die ihrem Namen geweiht war, und hier, an einem Abend wie diesem, können wir uns vorstellen, daß sie noch immer Macht über lebende Menschen und ihre Herzen hat.«

Oscar North spähte über den Granitblock hinweg, der seine Deckung war. Die Menge der Touristen, die an der Lichtschau teilgenommen hatte, war jetzt weit weg. Er sah sie nur noch als eine schwarze Masse, unbedeutend unter den alten Kapitellen und Architraven, eine Herde, die bald wieder ihre Boote besteigen und zu ihren Hotels westlichen Stils zurückkehren würde.

Er würde bleiben.

Morgen mußte er zurückfliegen, zur Arbeit, zu den Geschäftsräumen in Genf. Heute nacht aber würde er hier bleiben und exorzieren, was im Hotelzimmer geschehen war. Wenn er versuchte, seine Gedanken in diese Richtung zu lenken, stieß er auf eine beängstigende Leere. Aber die Insel Philae war ein Heiligtum, wo er imstande sein mochte, wieder zu sich selbst zu finden, bevor er in die Welt des Mammons zurückkehrte. Das Mondlicht auf den alten Tempeln mochte ihn wiederherstellen. Oder die Einsamkeit. Oder Isis. Oder was immer es war, was außer Reichweite und ihm bisher unbekannt geblieben war. Es war in Ordnung für Osiris, aber er, Oscar North, war sein ganzes verdammtes Leben lang in eine Truhe eingesperrt gewesen.

Es sah ihr ähnlich, daß sie sich beklagte. Winifred kam aus einer verhältnismäßig stabilen Familie. Tyrone North, Oscars Vater, hatte es nie länger an einem Arbeitsplatz ausgehalten. Für die Familie hatte es keine Sicherheit gegeben, wenig Erziehung für die Jungen, als sie von einer Großstadt zur anderen gezogen waren. Als Halbwüchsiger war Oscar von daheim weggelaufen, um sich auf eigene Faust durchzuschlagen und Gelegenheiten zu ergreifen, die sich ihm boten. Gewiß, er war bei der Gesellschaft geblieben, und schon vorher hatte er sich in Abendkursen weitergebildet. Hatte etwas aus seinem Leben gemacht. Natürlich hatte er dafür Opfer bringen müssen.

Zu dumm, das mit Alex, ihrem Jungen. Alex war seinem Großvater nachgeschlagen, er war ein Taugenichts, und es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Warum konnte Winny nicht davon aufhören? Nun, so bald würde sie nicht wieder davon anfangen.

Son et lumière ging zu Ende. Musik ertönte, weiße Lampen gingen an. Aus seinem Versteck konnte North sehen, wie die turbantragenden Wärter das Publikum hinunter zum Anlegeplatz dirigierten, wo die Feluken an der Hafenmauer vertäut lagen. Dieser Nervtöter Jackson würde unter ihnen sein.

Leichenbestatter! Was für ein Beruf!

Das Getrappel der Füße entfernte sich und erstarb. Die elektrische Beleuchtung wurde ausgeschaltet.

Mondlicht schien auf North herab. Er blickte zu der silbernen Sichel auf und dankte ihr für ihr Licht. Als kleiner Junge hatte er den Mond gefürchtet, hatte Angst gehabt, daß ihn aus den Schatten, die er warf, Ungeheuer anspringen würden.

Er stand vorsichtig auf und begab sich in den Schutz von Trajans Kiosk. Wahrscheinlich blieb die Insel während der Nacht unbewohnt; es gab keine Häuser und Wohnungen, aber er wußte es nicht mit Bestimmtheit. Sein sehnlicher Wunsch war, hier allein zu sein und mit Isis Zwiesprache zu halten.

Schritte drangen durch die Nachtstille, Sandalen schlappten auf Steinplatten. North stand unbeweglich im Schatten. Er sah eine undeutliche Gestalt mit einer trüben Taschenlampe näherkommen. Sie ging durch die alten Ruinen, passierte ihn auf der anderen Seite der Wand, an der North wartete.

Er zog seine Schuhe aus und folgte dem Mann in einiger Entfernung. Es war ein Ägypter in einer Dschellabah, der im Gehen eine Zigarette rauchte. Wahrscheinlich überprüfte er, daß nach dem Touristenstrom dieses Tages alles in Ordnung war.

Endlich ging der Mann hinunter zum Wasser. Weiter draußen markierten Lichter mit zitternden Spiegelungen die Positionen der Feluken, die ihre Passagiere zurück zu ihren Hotels brachten.

Als Norths Blick über die Boote ging, sah er einen Passagier aufstehen und winken. Es war Jackson. Einen Augenblick dachte North, der Mann habe ihn gesehen, dann aber wurde ihm klar, daß er bloß eine dramatische Geste in die Richtung der Insel gemacht hatte. Es war gut zu wissen, daß er aus dem Weg war.

Eine Frau bemerkte Jacksons Geste und stand auf, ihn zu imitieren. Die Idee war ansteckend. Im Nu standen alle auf und winkten Philae zu, als die Insel in der Stille der Nacht außer Sicht kam. Schafsmäßig.

Desinteressiert an den Mätzchen der Touristen, war der Ägypter die Stufen zum Anlegeplatz hinuntergegangen, wo ein zweiter Mann wartete. Sie sprachen miteinander, und der erste warf seinen Zigarettenstummel in den Nil, wo der winzige Funke sofort erlosch. Nach einer Weile bestiegen die Männer ein kleines Boot, setzten das Segel und kehrten Philae den Rücken.

North war im alleinigen Besitz der Insel.

Er richtete sich auf, hob die Arme und reckte sich.

»Isis!« rief er.

Das Wort hallte von den Steinen wider, verlor sich zwischen den uralten Bauwerken, die klar und geisterhaft unter dem Mond standen. Ein Gefühl von Andacht und Ehrfurcht stellte sich ein. Vorsichtig begann er umherzugehen.

Das Mondlicht regnete herab und balsamierte ihn in Licht. Die Stille der milden Nacht, die alten Steinplatten unter seinen Füßen, das fast unhörbare meditative Murmeln des großen Stroms – dies alles hatte eine verändernde Wirkung auf sein Bewußtsein. Er war nicht mehr er selbst. Er war sensibilisiert für eine Anzahl von Eindrücken, die ihn durchzogen wie eine Brise eine Baumgruppe. Alle Götter und Göttinnen des alten Ägypten wurden möglich, in ihrer Vielfalt, mit ihren menschlichen Fehlern, ihren Streichen, ihrer Anmut. Er fand sich im Einklang mit ihrer Musik.