Da waren sie, flüchtig und schwer zu fassen wie ein Lufthauch, Schönheit, Nacht, Sonnenschein – Leben. Neue Bewußtseinsebenen öffneten sich ihm wie die Aufdeckung einer lange verschlossenen Gruft. Die herkömmliche abendländische Vorstellung von den alten Ägyptern als vom Tode Besessene war falsch; sie waren vom Leben besessen gewesen, das sie unter einem ewig klaren Himmel verbracht hatten, und dieses Leben hatten sie so geliebt, daß sie ein Leben nach dem Tod erfunden hatten, das die Freuden und Freiheiten dieses Daseins so getreulich wie möglich wiedergab, dieses an die Flußoase des Nils gebundenen Daseins, das allzu schnell von der Geburt in den fernen Bergen zum Tod im ebenen Delta dahinfloß.
Das Abendland hatte eine negative Vorstellung daraus gemacht. Es war eine Wunschübertragung. Im Westen war das Leben untergegangen, nicht hier. Im Westen hatte sich das Leben in eine Serie von biologisch nicht abbaubaren Bestandteilen verwandelt. Die Stunden im Büro, die Stunden, die im Berufsverkehr zur und von der Arbeit verbracht wurden, die in negativer Weise mit Klatsch in der Bar des Golfclubs oder vor dem Fernseher verbrachten Stunden. Ein parzelliertes Leben, eingesperrt in Städten, in kleinen Wohneinheiten.
Diese Vorstellungen erstanden wortlos in seinen Gedanken und verblüfften ihn.
Winny hatte recht. Er hatte sie nie geliebt. Oder er hatte keine Möglichkeit gefunden, seine Liebe auszudrücken.
Aber irgendwo am Saum seines Bewußtseins war immer das Wissen um die Wüste und den Fluß des Lebens gewesen, der sie durchströmte, um Leben, das in den Sümpfen brütete und am Himmel seine Kreise zog. Beinahe in Reichweite. Nur nicht für ihn.
Und diese absurde Vielfalt von Göttern – vielleicht glaubte dieses verschwundene Volk nicht an Leben mit einem großen L. Die Menschen hatten bloß gelebt, ohne die Abstraktion des Lebens zu kennen, und die Vielzahl der Götter spiegelte diese menschliche Unmittelbarkeit wider. Eine Fruchtbarkeit von Wesen! Um wieviel wünschenswerter als ein freudloser Monotheismus!
Dies alles ergoß sich in Norths Bewußtsein.
Statt ihn in Verzweiflung zu stürzen, brachte es ihm Freude. Freude, daß er endlich, wenn auch spät – wenn auch zu spät – eine geheime Wirklichkeit berührt und etwas gefunden hatte, was er sich zu eigen machen konnte.
»Isis!« rief er. »Wo bist du? Komm hervor!«
Er war auf ihrer Insel. Dieser Augenblick im Mondschein enthielt die Gesamtheit seines imaginativen Lebens. Sie erweiterte sich, die Welt zu umfassen.
Er war überwältigt – oder nicht überwältigt, weil er nicht er selbst war.
Bis auf das ferne Bellen eines Hundes und das leise Glucksen und Murmeln des Flusses war die Nacht vollkommen still.
North durchwanderte in einer Trance sein neu gefundenes Territorium, aus Schatten in Helligkeit, aus Helligkeit in Schatten. Seine Insel war ein bloßer Trittstein zwischen den beiden Ufern des Nils, hundertfünfzig Meter lang und vierhundertfünfzig Meter breit. Er machte einen Rundgang durch die hallenden Tempel und kam wieder zum Landeplatz.
Als er dort die zum Wasser hinabführenden Stufen betrachtete, dunkel im Mondlicht, glitt eine Barke geräuschlos zum Anlegeplatz. Sie führte ein schwarzes Segel, das der einzige Insasse des Bootes fachmännisch einholte. Gleich darauf ging er an Land und stieg ohne Aufenthalt die Stufen hinauf zu North.
North wich zurück, doch gelang es ihm nicht mehr, der Entdeckung zu entgehen. Die Gestalt winkte ihm.
Mit einem an Übelkeit grenzenden Zittern, das seinen ganzen Körper durchlief, nahm er die Seltsamkeit des Ankömmlings wahr. Dieser hatte kleine und schwarze Augen. Er trug eine weiße Tunika mit Armbändern an Handgelenken und Oberarmen. Und er hatte den Kopf eines Schakals. Seine gespitzten Ohren zeigten wachsam auf North.
»Ich will dich, Oscar«, sagte Anubis.
Nachdem der letzte Gegenstand aus Winifreds Koffer zu Boden gefallen war, herrschte vollkommene Stille im Zimmer. Von Oscar Norths Standort gesehen, war der Körper seiner Frau hinter dem Bett außer Sicht.
Er blieb, wo er war, gekleidet nur in Hemd und Badetuch. Nach ein paar Augenblicken begann sie schwache krabbelnde Geräusche zu machen. Sein Mund war trocken. Er tappte ins Bad, goß sich Mineralwasser aus ihrer Flasche in ein Glas und trank. Dann zog er eine lange Hose an.
Winifred setzte sich benommen auf und betupfte ihren Mund, der blutete.
»Vielleicht wird dich das lehren, mich nicht unflätig zu beschimpfen«, sagte er. »Halt in Zukunft einfach die Klappe.«
Sie sagte nichts.
Er spürte den Drang, den Streit fortzuführen. »Ich möchte so wenig wie du nach Genf zurück. Es ist einfach etwas, das ich tun muß, das weißt du.«
Sie sagte mit undeutlicher Stimme: »Ich komme nicht mit dir zurück, du Scheißkerl.«
Er ging hinüber zu ihr und nahm eine drohende Haltung an. »O doch, du wirst. Laß uns nicht wieder damit anfangen. Du weißt, wir hatten diesen Streit schon, als wir von Washington wegzogen. Du wolltest nicht nach Europa.«
Er nahm einen albernen Tonfall an, um ihre Haltung zu karikieren. »Du wolltest nicht nach Genf. Du hattest Angst, die Terroristen könnten uns erwischen. Du hattest Angst, die Kommunisten könnten uns ans Leder gehen. Du hattest Angst – Gott allein weiß, wovor du nicht Angst hattest. Tatsache ist, daß unser Lebensstandard sich gebessert hat, seit wir die Staaten verließen – nicht zu reden von meinem Gehalt. Dafür muß ein Preis bezahlt werden, und wir müssen Realisten sein und ihn bezahlen. Deshalb werden wir morgen zurückfliegen, und mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Nun steh auf und zieh dich an. Mach voran!«
Sie antwortete nicht. Sie zog die bloßen Knie an und legte den Kopf darauf, so daß ihr strähnig gefärbtes blondes Haar nach vorn fiel.
»Komm schon, Winny«, sagte er, freundlicher jetzt. »Ich habe dir nicht weh getan.«
»Du hast mich verletzt«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Du hast mich immer verletzt. Dir liegt kein bißchen an mir, genauso wenig wie dir an Alex lag. Du hörtest sogar auf, so zu tun, als ob dir an mir läge, und das tut auch weh.«
Sie begann zu weinen.
»Ach du lieber Gott«, sagte er.
Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen und drohte ihr mit allem möglichen, wenn sie sich nicht zusammenreißen würde, drohte ihr, sie allein zurückzulassen – »allein in Ägypten«, wie er es ausdrückte.
»Du wolltest nicht in die Schweiz, weil sie nicht Amerika war. Als ich diese Chance eines Winterurlaubs ergriff, wolltest du nicht nach Ägypten, weil es nicht die Schweiz war. Was, zum Teufel, willst du eigentlich?«
»Ich möchte gefragt werden, verdammt noch mal! Ich möchte Teil deines Lebens sein!«
»Oh, du bist Teil meines Lebens, und nicht zu knapp«, sagte er sarkastisch. »Du bist mein Anker – der Teil, der mich hinunterzieht.«
Winny blickte auf, gespenstisch, Blut um den Mund, das Gesicht bleich, wie ein gequältes Tier.
»Willst du nicht wenigstens Erbarmen zeigen? Glaubst du, es macht mir Freude, so elend zu sein? Ich ziehe dich nicht hinunter. Du warst unten. Du bist niemals aus dem Slum-Milieu deiner Kindheit herausgewachsen, aus dem Schatten deines Vaters, der ein Versager war. Versuch über deinen Horizont hinauszusehen.«
»Das mußt gerade du sagen! Verzogener Balg, Papas kleines Mädchen! Ständig rufst du ihn an, den alten Furzer. Er vergiftet dich gegen mich. Er sagt dir, daß du keinem meiner Kumpel trauen sollst. Er …«
»Ach ja, und wann hast du jemals eine von meinen Freundinnen gemocht?«