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Man brauchte ihm nicht zu sagen, wer sie war.

Sie war zierlich, jung, ewig, unvergleichlich. Sie wenigstens hatte in ihrem Heiligtum auf Philae noch immer psychische Energie und konnte Licht erzeugen. Das Innere des Gebäudes schimmerte von ihrer Vitalität.

Sie war dunkel, schlank, groß, beeindruckend – und doch zugänglich. Ihre großen Augen waren mit Kohle schwarz umrandet. Ihr gehörte das Auge, das große Auge des Lebens. Auf ihrem Kopf trug sie, als wäre sie Teil ihres Schädels, eine Krone aus den Hörnern Hathors, mit einer Sonnenscheibe zwischen den Hörnern. Von der Sonnenscheibe und ihrem ganzen Körper strömte Licht, und alles Schlechte wurde von ihrer Sandale in den Staub getreten. Eine goldene Kobra züngelte als Zeichen der Macht von ihrer Stirn.

Ein einfaches weißes Schlauchkleid bedeckte ihren Körper. Ein Diadem aus grünem Malachit schmückte ihre Perücke, die mit Bienenwachs und Harz überzogen war. Armbänder und Fußreifen von ähnlichem Stein schmückten ihre Gliedmaßen. In einer Hand trug sie ein ankh als Symbol des Lebens.

Anubis erhob die Hände in symbolischem Gruß. North sank auf die Knie. Starker Blütenduft ging von der Göttin aus, erregend und beruhigend zugleich.

Sie sah North nicht einmal an, sondern wechselte nur ein paar Worte mit Anubis, der North mit einem kraftvollen Ruck aufhob und wieder auf die Beine stellte.

Die Art und Weise, wie ihr Blick so demütigend von ihm abglitt, brachte Norths Gedanken wieder auf Winny. Am Ende hatte auch sie ihn nicht ansehen wollen – bis sie mit dem Revolver zielen mußte.

Und sie hätte seine persönliche Isis sein können, seine strahlende und kraftvolle Frau. Statt dessen hatte er sie herabgesetzt, indem er anderswo Macht gesucht hatte, in den klimatisierten Büros der multinationalen Konzerne. Sie hatte sich von ihm eine Erkältung geholt. Er hatte Winny noch gründlicher ruiniert als er sich selbst entmenschlicht hatte …

Diese verspäteten Einsichten verschwanden, sobald sie aufdämmerten, hinausgespült durch die Strahlungskraft, die von Isis ausging.

Da er nur für die glänzende Gestalt der Göttin Augen gehabt hatte, begriff North erst verspätet, daß der Raum, in dem sie sich befanden, gedrängt voll von Gestalten war, die in geheimnisvollen Geschäften kamen und gingen. Viele hatten menschliche Körper mit Tierköpfen. Diejenigen mit der höchsten Autorität, die oft Sklaven befehligten, waren am meisten Tier. Sie trugen auffallende Tuniken mit dem ägyptischen Rock und waren wie Anubis mit Perücken aus verfilztem blauem Haar ausgestattet, das ihnen schwer auf die Schultern hing.

Einige dieser furchteinflößenden Wesen umstanden einen gewaltigen Tisch, dessen Enden in Voluten eingerollt waren. Auf dem Tisch fand eine grauenhafte chirurgische Operation statt, ausgeführt von einem Wesen mit dem Kopf eines Krokodils. Der Anblick dieses Geschöpfes, das einer koordinierten und nicht unkomplizierten Tätigkeit nachging, tatsächlich sogar ein großes Skalpell schwang, brachte North zu Bewußtsein, wie tief er im Mythos gefangen war. Hier in diesem Kerker des Lebens waren die Hieroglyphen von menschlichem Interesse: Er war Zeuge dessen, was einmal eine selbstgenügsame Weltsicht gewesen war, welche sich die Wünsche und Qualen einer Gattung zu eigen machte, die aus dem Tier hervorgegangen war und Erklärungen für die wundervolle natürliche Welt suchte, in der sie sich sah, mit ihren Wassern, ihrer Vegetation, ihren Tieren, Stürmen und Abfolgen von Tagen und Nächten, beherrscht von Sonne, Mond und Sternen.

Als Anubis ihn näher zum Operationstisch zog, sah er, daß ein Mann in der Kleidung eines Kriegers auf dem Tisch lag. Er trug noch immer einen Helm von grimmigem Aussehen, und einen Körperpanzer sowie Beinschienen aus Flechtwerk. Dem Krokodilsmenschen gegenüber stand eine bedrohliche Frau über den Liegenden gebeugt, ganz in Rot gekleidet, sehr breit und mit mächtigen Armen. Sie hatte den Kopf einer Löwin, den sie träge in Norths Richtung drehte. Nachdem sie ihn mit einem Blick gemustert hatte, wandte sie den Kopf wieder dem Krieger zu. North erkannte sie aus dem Reiseführer, in dem er während des Herfluges von Genf gelesen hatte. Dies war Sekhmet, die Kriegsgöttin, berühmt für Gewalt und Kraft.

Sie beugte sich über den Operationstisch und verfolgte schnurrend, wie der Krieger von der Kehle bis zum Unterleib aufgeschnitten wurde. Der Krokodilskopf mit seinen Assistenten öffnete den Mann wie ein Buch. Rippenknochen knarrten. Der Krieger lag mit offenen Augen, starrte ins Nichts. Sekhmet schnurrte tiefer.

Krüge mit Spezereien wurden herbeigetragen, dazu Rollen von Leinenstoff und lebende Schlangen, denen das Gift abgezapft werden sollte. Eine Einbalsamierung fand statt, und alle Beteiligten arbeiteten daran mit routinierter Umsicht und Schnelligkeit.

North hatte wenig Zeit, sich diesem beängstigenden Anblick zu widmen, denn er wurde weitergezogen zu zwei riesigen Waagschalen, für die Anubis starkes Interesse zeigte. Er ließ North stehen, um eine Wiegezeremonie, mit der offensichtlich auf seine Ankunft gewartet worden war, genauer in Augenschein zu nehmen.

Kleine Männer mit Wolfs- und Hundeköpfen, gekleidet in grünleinene Tuniken, machten ein Aufhebens um die Waagschalen. Über ihnen ragte der verantwortliche Gott – Thoth, der Schreiber, der Ibisköpfige, dessen Augen schwarz und berechnend über dem langen gelben Schnabel glitzerten. Thoth trug eine dicke gelbe Perücke, gekrönt von einer Mondsichel, aus der Licht hervorbrach.

Thoth und Anubis konferierten miteinander. Die Stimme des ersteren war hell und zögernd, die des Anubis guttural, knurrend und schnell.

Während sie sich besprachen, wurde die Seele des toten Kriegers in einer kleinen roten Vase zur Waage gebracht. Sie sollte auf eine der Bronzeschalen gelegt werden, während eine Feder von einer Wildgans auf die andere kam.

Dies war die Zeremonie des Gerichts. So wurde der Krieger beurteilt nach dem, ob sein Leben gut oder böse gewesen war. Die Waagschalen entschieden, ob ihm erlaubt würde, die Glückseligkeit der Sommersterne zu erlangen, oder ob er in die Regionen der Unterwelt steigen mußte.

Dies alles verstand North. Es wurde vor seinen Augen inszeniert. Und in dem großen Raum warteten weitere Krieger, der Oberwelt der Lebenden entfremdet, und harrten der Einbalsamierung und des Gerichts. Ihre Gesichter waren grau und blutig. Sie standen auf ihren toten Füßen, gehorsam dem Gesetz der Unterwelt.

North war nicht gehorsam. Er war ein Bürger der Vereinigten Staaten. Er hatte kein Verlangen, sich diesem beunruhigenden Verfahren zu unterziehen.

Anubis hatte ihm den Rücken zugekehrt und untersuchte die Waagschalen.

North ergriff die Flucht und rannte zur nächsten Tür.

Ein metallischer Ton wie ein Beckenschlag gellte in seinem Kopf. Aus den Augenwinkeln sah er die rotgekleidete Sekhmet vom Operationstisch fortspringen und mit der ganzen Energie einer Löwin ihm nachsetzen.

Isis aber kam ihr zuvor. Isis die Schöne und Schreckliche, Mutter und Zerstörerin.

Es schien, daß sie nur eine Hand in Norths Richtung erhob. Er sah die Bewegung durch den Hinterkopf. Ihre leuchtende Ausstrahlung verstärkte sich.

Er kroch an einem grasbewachsenen Ufer. Sie stand lächelnd auf ihm, holte mit einem großen Schwert aus.

Er versuchte den Nil zu durchschwimmen. Sie saß rittlings auf einem Krokodil und näherte sich ihm schnell.

Er flog auf weißen Schwingen. Sie ritt einen Adler und schoß goldene Pfeile auf ihn.

Er lag rücklings auf dem Steinboden, gelähmt. Isis hatte sich bereits abgewandt. Zwei Diener hoben ihn auf und trugen ihn zum Operationstisch, von dem der Leichnam des Kriegers, nun mit Leinenbandagen umwickelt, gehoben wurde. Er konnte nicht denken. Ein winziger Mond brannte in seinem Schädel. Er konnte es sehen, konnte deutlich Hieroglyphen sehen, die an den Innenwänden seines Schädels aufgereiht waren, obwohl er ihre Bedeutung nicht verstand.

Als er unter den Säulenreihen ging, auf weichen Sohlen die ungezählten Stufen erstieg, war ihm auch bewußt, daß Anubis’ große dunkle Gestalt über ihm aufragte, als wollte sie ihn in Stücke reißen. Es schien ihm kein Widerspruch zu sein, daß er gleichzeitig die vielen Stufen im Innern seines Schädels erstieg, in seine Abteilungen blickte, und auch auf dem Operationstisch lag. In dem Licht, das Isis ausstrahlte, blitzte ein Skalpell.