»Zuerst etwas zu trinken für dich«, sagte Anubis.
Er hielt North einen beschlagenen Becher hin, der ein paar Fingerbreit mit dunkler Flüssigkeit gefüllt war. North konnte nicht widerstehen, nahm den Becher und schluckte. Es war eine bittere Medizin, die nach Holzrauch und Kräutern schmeckte.
Er trug eine Löwenmaske und tanzte. Die Papyrusstauden tanzten auch. Die Musik ist schrill, mit Flöten und Zupfinstrumenten. Das ganze Dorf tanzt um mich. Dieses Jahr ist ein Jahr der Fülle. Das Vieh ist fett, es wird geschmaust.
Er raste in seinem zweirädrigen Kriegswagen dahin, die Wüste heiß um ihn. Voraus das Wasserloch. Die Erregung der Jagd. Hunde neben den Rädern, japsend beim Anblick der Antilope. Pfeile fliegen, die Sonne blutet. Aber mit Netzen fangen wir eine Antilope lebendig. Er hält das in Todesangst wild blickende Tier. Er umarmt es, küßt ihm die schäumenden Nüstern.
Er war in der kühlen Flut, floh hierhin und dorthin, ein Fisch. Die alljährliche Überschwemmung. Funkelndes Flachwasser, dann Schlamm. Größere Fische voraus.
Dann war er ein anderer Fisch, zahm. Er schwamm in einem Becken auf dem Tisch des Hohenpriesters herum. Jeden Tag Anrufungen, Gebete. Der große, hallende Tempel. Er konnte Sonnenfinsternisse voraussagen.
Er stapft durch das schlammige Feld, sein Ochse zieht vor ihm den Pflug. Fliegen, die Höhlung seines Magens. Er ist der halbnackte Fellache. Jeden Tag vor Morgengrauen auf den Beinen. Die Schlange in der Asche des Herdfeuers.
Ich bin es, Hathor, der nach der Göttin benannte Ochse, damit ich stark sein und den ganzen Tag arbeiten soll. Bald Futter und Schatten und der vertraute Gestank der Hütte. Meine Schultern ächzen. Beherrsche ich die Sonne? Sie folgt mir, wo ich gehe.
Er sehnt sich wieder nach den Sümpfen. Er ist der zahme Gänserich. Hier kommt mein Besitzer, mich zu füttern, nur … Als er den Kopf aus dem Korb steckt, sieht er das Messer in der Hand des Besitzers, glänzend wie eine Schnitte der Abendsonne.
Er kämpft und windet sich unter seinen Halluzinationen. Einen Augenblick ist er der Gemahl der Isis, der mit ihr auf einem goldenen Schal liegt. Leuchtende Lippen, die Geheimnisse einer Göttin, die einen Sterblichen blenden. Sirupgeschmack, überwältigende Umarmungen, ein Wigwam aus Haar. Freude und ein Aufwärtsgleiten, Quell der Fröhlichkeit und allen gelebten Lebens. Eine Million Geburten, die ihrer Vereinigung entspringen. Genius, Triumph, die Sterne wirbeln in einem gewaltigen süßen Sturm. Das Glitzern des Dolches.
Und die ganze Zeit eilten die kleinen dunklen Leute die Stufen seines Gehirns auf und ab, leerten alles aus, trugen es fort. Die ganze Burg entblößt, wehrlos, leer. Die Läden werden geschlossen, das Licht wird ausgesperrt.
Jemand mit einem Falkenkopf half ihm vom Tisch; ein anderer Krieger nahm seinen Platz ein. Sein Verstand war noch verwirrt von der Anästhesie, die Anubis ihm verabfolgt hatte. Er war hohl, gebrechlich.
Es war unmöglich zu bemerken, was geschah.
Offenbar war er nun wieder in einem Boot. Es hatte einen hohen, gekrümmten Bug wie der Schnabel eines Vogels, und glitt rasch über das Wasser. Das Wasser war vielleicht der Nil, oder vielleicht jener andere dunkle Fluß, der irgendwo tief unter dem Nil dahinströmt.
Anubis sagte ihm, daß seine Seele die Prüfung nicht bestanden habe. Er sei nicht für die Sommersterne bestimmt. Dies sei das Urteil.
»Was dann?« fragte North.
»Du gehst zum Abgrund.«
»Ist der Abgrund sehr schlimm? Sag es mir.«
Anubis nickte mit dem Schakalkopf.
»Es ist der Ort, wohin die Verdammten gehen.«
Er war von dem Getränk, das man ihm gegeben hatte, noch immer halb von Sinnen. Es schien, daß er das Knarren von Rudern hörte, rrrarrrk, rrrarrrk, rrrarrrk, oder vielleicht war es seine Wirbelsäule, als er sich abmühte, eine sitzende Haltung einzunehmen.
»Meine Seele war zu schwer mit Sünde beladen?« fragte er.
Der schakalköpfige Gott antwortete nicht, vielleicht, weil keine Antwort nötig war, vielleicht, weil sie sich rasch einem Landeplatz näherten.
Sein Geräuschempfinden war gestört. Was er zuerst für das Rauschen eines Wasserfalls gehalten hatte, erwies sich als Harfenmusik, gespielt von einer blinden Harfenistin, die mit dem Rücken am Schiffsmast saß. Sie spielte ohne Unterbrechung weiter, als sie am Kai anlegten.
»Hinaus mit dir«, sagte Anubis. »Und nimm diese mit dir.«
North blickte in Verwirrung um sich. Das Licht war eigentümlich und durchdrang die Gebäude, als ob sie durchscheinend wären; doch schien ihm, es sei denn, er bildete es sich ein, daß er wieder im Sheraton-Hotel war. Es ragte über ihnen auf. Er konnte den Eckbalkon des Zimmers sehen, das er mit Winny teilte.
Geistesabwesend nahm er die Gegenstände an, die Anubis ihm gab.
»Ras Sonnenboot wird bald den Osthimmel erreichen«, sagte der Gott. Vielleicht war es eine Abschiedsformel, obwohl das fellbedeckte Gesicht seinen ernsten Ausdruck nicht veränderte. Er winkte seinen Ruderern, und das Boot steuerte wieder in den Fluß hinaus.
Halb betäubt blickte Oscar North auf die Gegenstände, die er erhalten hatte.
Eine kleine rote Glasvase, in der seine Seele flatterte. Ein Tongefäß mit einem Deckel, der die Form eines Katzenkopfes hatte, schwer zu halten, weil er seine konservierten Eingeweide enthielt, die er im Abgrund sicherlich benötigen würde.
Und eine Rückflugkarte nach Genf.
Schon drang das Boot in die Nebel ein, die über dem Schiffahrtskanal des Flusses lagen. Im Heck stand eine dunkle Gestalt mit einem Schakalskopf, der das Boot mit einem langen Steuerruder lenkte. Er war nicht von der Welt der Männer und Frauen, obwohl er mit ihnen Umgang hatte.
Seine Barke spiegelte sich nicht im Wasser des Stroms, und warf keinen Schatten in die liefen unter ihrem Kiel.
Und die Stimme der Harfenistin drang schwach zu North herüber, der verloren am Ufer stand:
»Und bist du auch im Reich der Geister,
Gefangen von dem, was am meisten du glaubst,
So wirst du doch die Sonne sehen,
Und den Mond, der dich mahnt an der Wahrheit Licht …«
Originaltiteclass="underline" ›NORTH OF THE ABYSS‹ • Copyright © 1989 by Brian W. Aldiss • Erstmals erschienen in ›The Magazine of Fantasy and Science Fiction‹, Oktober 1989 • Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Thomas Schlück, Literarische Agentur, Garbsen • Copyright © 1996 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München • Aus dem Englischen übersetzt von Walter Brumm • Illustriert von Ingo Wiegand
James Morrow • USA
DIE KRIEGER UND DIE FRAU
»Was hast du im Krieg gemacht, Mami?«
Der letzte lange Schatten ist schon vor Stunden vom Zifferblatt der Sonnenuhr geglitten, mit der heißen ägyptischen Nacht verschmelzend. Meine Kinder sollten längst schlafen. Statt dessen springen sie auf ihren Strohlagern herum und schinden Zeit.
»Es ist spät«, antworte ich. »Schon neun.«
»Bitte«, betteln die Zwillinge mich im Chor an.
»Ihr habt morgen Schule.«
»Du hast uns die ganze Woche keine Geschichte erzählt«, beharrt Damon, der Quengler.
»Der Krieg ist eine so tolle Geschichte«, erklärt Daphne, die Schmeichlerin.
»Kaptahs Mutter erzählt ihm jeden Abend eine Geschichte«, quengelt Damon.