Der Prinz trinkt sein Glas leer und seufzt. »Wo ist das Mädchen, das ich geheiratet habe? Du hast immer so viel Wert auf dein Aussehen gelegt.«
»Das Mädchen, das du geheiratet hast«, antwortet Helena pointiert, »ist nicht deine Frau.«
»Nun ja, natürlich nicht. Technisch gesehen, gehörst du noch ihm.«
»Ich will eine Hochzeit.« Helena trinkt gierig einen Schluck Samothrake und stellt den Pokal auf den Spiegel. »Du könntest zu meinem Mann gehen«, schlägt sie vor. »Du könntest dich dem hochherzigen Menelaos vorstellen und versuchen, die Sache auszudiskutieren.« Auf der unebenen Spiegelfläche reflektiert, wächst der Pokal sonderbar, verzerrt, wie durch die Augen eines Betrunkenen gesehen. »He, hör zu, ich bin sicher, er hat inzwischen eine andere gefunden – schließlich ist er eine gute Partie. Also, vielleicht hast du ihm sogar einen Gefallen getan. Vielleicht ist er nicht mal wütend.«
»Er ist wütend«, beharrt Paris. »Der Mann ist zornig.«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es.«
Ungeachtet ihres königlichen Standes konsumiert Helena den restlichen Wein mit der groben Sorglosigkeit eines Galeerensklaven. »Ich will ein Baby«, sagt sie.
»Was?«
»Du weißt schon: ein Baby. Baby: ein extrem junger Mensch. Mein Ziel, lieber Paris, ist es, schwanger zu werden.«
»Vaterschaft ist etwas für Verlierer.« Paris schmeißt seinen Speer aufs Bett. Die Matratze streichend, verschwindet der eichene Schaft in den weichen Daunen. »Vorsicht mit dem vino, Liebes. Alkohol macht schrecklich fett.«
»Verstehst du nicht? Ich verliere den Verstand. Eine Schwangerschaft würde mir einen Lebensinhalt geben.«
»Jeder Idiot kann ein Kind zeugen. Eine Zitadelle verteidigen kann nur ein Held.«
»Hast du eine andere gefunden, Paris? Ist es das? Eine Jüngere, Schlankere?«
»Sei nicht albern. Durch alle Zeiten hindurch, in vergangenen Tagen und noch kommenden Epochen, wird kein Mann eine Frau so lieben wie Paris Helena liebt.«
»Ich wette, die Ebenen Iliums wimmeln nur so von Prostituierten, die den Truppen folgen. Die müssen vor Begeisterung über euch glatt in Ohnmacht fallen.«
»Zerbrich dir darüber nicht deinen hübschen kleinen Kopf«, sagt Paris und wickelt ein Helmbusch-Soldaten-Schafsdarmkondom aus.
Falls er das je wieder zu mir sagt, schwört Helena, als sie angetrunken ins Bett purzeln, werde ich so laut schreien, daß die Mauern Trojas einstürzen.
Das Gemetzel läuft nicht gut, und Paris ist deprimiert. Günstig geschätzt, hat er heute morgen bestenfalls fünfzehn Achaier in das Haus des Hades geschleudert: Machaon mit den starken Beinschienen, Euchenor mit den Eisenmuskeln, den axtschwingenden Deichos und ein Dutzend weitere – fünfzehn edle Krieger in die dunklen Tiefen geschickt, fünfzehn atemlose Körper als Futter für Hunde und Raben zurückgelassen. Lausig.
Entlang der ganzen Front gibt Priamos’ Armee kampflos Boden preis. Ihre Moral ist gebrochen, ihr esprit ist erschöpft. Sie haben Helena seit einem Jahr nicht gesehen, und ihnen ist nicht mehr nach kämpfen zumute.
Mit einem tiefen äolischen Seufzer setzt sich der Prinz auf seinen Stapel konfiszierter Waffen und beginnt seine Mittagspause.
Hat er eine Wahl? Muß er sie weiter im Dunkeln halten? Ja, bei Poseidons Dreizack, ja. Helena in ihrem heutigen Aussehen zur Schau zu stellen, würde alles nur noch schlimmer machen. Vor langer Zeit einmal genügte ihr Gesicht, um tausend Schiffe vom Stapel zu lassen. Heute lockt es keinen thebanischen Fischkutter mehr aus dem Trockendock. Laß die Truppen einen Blick auf ihre Falten erhaschen, laß sie gar ihr alterndes Haar erspähen, und sie werden fliehen wie Ratten von einer sinkenden Trireme.
Er poliert sich einen Pfirsich – seit er sein berühmtes Urteil gesprochen und Aphrodite ihren Preis gegeben hat, macht Paris sich nichts mehr aus Äpfeln – da galoppieren zwei der besten Pferde Hissarliks, Aithon und Xanthos, heran und ziehen den Streitwagen seines Bruders. Paris erwartet, Hektor an den Zügeln zu sehen, doch nein: der Lenker, bemerkt er über die Maßen verblüfft, ist Helena.
»Helena? Was tust du hier?«
Einen Ochsenziemer schwingend, springt seine Geliebte herunter. »Du erzählst mir ja nichts über den Krieg«, japst sie und keucht in der Rüstung, »also ziehe ich selbst Erkundigungen ein. Ich war gerade unten am Mäander, wo deine Feinde eine Kavallerieattacke gegen das Lager von Epistrophos vorbereiten.«
»Geh zurück in die Zitadelle, Helena. Geh zurück nach Pergamos.«
»Paris, diese Armee, die du bekämpfst – das sind Griechen. Idomeneus, Diomedes, Sthenelos, Euryalos, Odysseus – ich kenne diese Männer. Sie kennen? Bei Pans Flöte, mit der Hälfte von denen bin ich ausgegangen. Du rätst nicht, wer die Kavallerieattacke führen wird.«
Paris probiert es. »Agamemnon?«
»Agamemnon!« Schweiß rinnt unter Helenas Helm hervor wie Blut aus einer Kopfwunde. »Mein eigener Schwager! Als nächstes erzählst du mir, daß Menelaos selbst gegen Troja zu Felde zieht!«
Paris hustet und sagt: »Menelaos selbst zieht gegen Troja zu Felde.«
»Er ist hier?« jammert Helena und trommelt auf ihren Brustpanzer. »Mein Ehemann ist hier?«
»Korrekt.«
»Was geht hier vor, Paris? Zu welchem Zweck haben die Männer von Argos’ Pferdeweiden den weiten Weg nach Ilium gemacht?«
Der Prinz wirft seinen Pfirsichkern gegen Helenas Brustschild. Ärgerlich sucht er nach Epitheta.[10] Eselsköpfige Helena nennt er sie im stillen. Lederhäutige Lakedaimonin, lautet seine innerliche Schmähung. Er fühlt sich geschlagen und besiegt, gefangen und gefesselt. »Also schön, Liebes, also schön …« Helena mit dem eisernen Willen, das zähe Luder, der Bronzearsch. »Sie sind deinetwegen hier, Liebes.«
»Was?«
»Deinetwegen.«
»Meinetwegen? Wovon redest du überhaupt?«
»Sie wollen dich zurückstehlen.« Während Paris spricht, scheint Helenas verblassende Schönheit um ein weiteres Grad abzunehmen. Ihr Gesicht verfinstert sich in einer unergründlichen Mischung aus Zorn, Schmerz und Verwirrung. »Sie sind dazu verpflichtet. König Tyndareos ließ deine Freier schwören, dem treu zu dienen, den du zum Manne wählst, wer immer das sei.«
»Meinetwegen?« Helena springt in den Streitwagen. »Du führst diesen ganzen, dummen, widerwärtigen Krieg um mich?«
»Nun, nicht um dich per se. Um Ehre, Ruhm, Arete.[11] Und jetzt Beeilung, zurück nach Pergamos – das ist ein Befehl.«
»Ich beeile mich, mein Lieber!« – sie hebt die Peitsche – »aber ich fahre nicht nach Pergamos. Los, Aithon!« Sie knallt mit der Peitschenschnur. »Los, Xanthos!«
»Wohin dann?«
Statt zu antworten, prescht Paris’ Geliebte davon und läßt ihn ihren Staub schlucken.
Benommen vor Zorn, zitternd vor Gewissensbissen stürmt Helena über die Ebenen von Ilium. Auf allen Seiten entfaltet sich ein befremdliches Drama, ein Spektakel zerstörter Sinne und geschundenen Fleisches: Soldaten mit ausgestochenen Augen, abgeschnittenen Zungen, abgehackten Gliedern, aufgerissenen Bäuchen; Soldaten, so sieht es aus, die ihre eigenen Gedärme gebären – und alles wegen ihr. Sie weint offen und hemmungslos, die großen, juwelenartigen Tränen rinnen ihre faltigen Wangen hinab und laufen über ihren Brustpanzer. Die Qualen des Prometheus sind ein Klacks, verglichen mit der Last ihrer Schuld, Herakles’ Säulen sind Federn, aufgewogen gegen die erdrückende Tonnage ihrer Gewissensbisse.
Ehre, Ruhm, Arete: mir fehlt da etwas, erkennt Helena, als sie das Blutbad überblickt. Der Sinn entgeht mir.