Sie erreicht die schlammige und stinkende Lisga-Marsch und zügelt die Pferde vor einem im Schmutz sitzenden Fußsoldaten, einem jungen Myrmidonen mit einem, wie sie annimmt, besonders ehrenhaften Speerloch im Brustpanzer und einem einzigartig ruhmreichen Verlust der rechten Hand.
»Kannst du mir sagen, wo ich deinen König finde?« fragt sie.
»Bei Heras Augen, du bist wahrlich nett anzusehen«, japst der Soldat, während er sich, Arete in voller Blüte, seinen blutenden Stumpf mit Leinen verbindet.
»Ich muß Menelaos finden.«
»Versuch es am Hafen«, sagt er und gestikuliert mit seinem Stumpf. Die Bandage tropft wie ein undichter Wasserhahn. »Sein Schiff ist die Arkadia.«
Helena dankt dem Soldaten und lenkt ihre Pferde auf die weinrote See zu.
»Bist du zufälligerweise Helenas Mutter?« ruft er, während sie davonrast. »Was für ein Gesicht du hast!«
Zwanzig Minuten später hält Helena, taumelnd vor Durst und nach Pferdeschweiß riechend, in Sichtweite der anbrandenden Wellen. Unten im Hafen liegen tausend Schiffe mit starkem Rumpf vor Anker, ihre Masten recken sich in den Himmel wie ein Wald entblätterter Bäume. Den Strand entlang errichten Helenas Landsleute einen kräftigen Holzwall, offenbar aus Angst, daß die Trojaner nicht zögern würden, ihre Flotte zu verbrennen, sollte die Verteidigungslinie je bis hier zurückgedrängt werden. Die salzige Luft vibriert von achaiischen Äxten – das Schlagen und Knirschen beim Fällen der Akazien, das Flechten der Palisaden, das Schärfen der Palisadenpfosten und das Formen der Brustwehren bildet eine Kakophonie, die das Flattern der Segel und das Rauschen der Brandung übertönt.
Helena beginnt am Kai und entdeckt bald die Arkadia, eine stämmige Pentekontor[12], aus deren Seiten ein halbes Hundert Ruder herausstechen wie Igelstacheln. Helena hat soeben die Laufplanke überquert, als sie ihrem Ehemann begegnet, älter zwar, von Falten gezeichnet, doch zweifellos er. Mit Helmbusch, geschmückt wie ein Pfau, steht Menelaos auf dem Vordeck, spricht mit einer stämmigen Baubrigade und belehrt sie über die richtige Plazierung der Aufspießpfosten. Ein gutaussehender Mann, sagt sie sich, ähnlich dem Krieger auf der Kondomschachtel. Sie versteht, warum sie ihn Sthenelos, Euryalos und den anderen Schönlingen vorgezogen hat.
Sobald die Arbeiter fortfahren, ihren stacheligen Hain zu pflanzen, schlendert Helena zu Menelaos und tippt ihm von hinten auf die Schulter.
»Hallo«, sagt sie.
Er war immer ein blasser Typ, aber nun verliert sein Gesicht auch noch das letzte Tröpfchen Blut.
»Helena«, sagte er und japst und blinzelt wie ein Mann, den man soeben mit einem Eimer Schmutzwasser übergossen hat. »Bist du das?«
»Richtig.«
»Du bist … äh … gealtert.«
»Du auch, mein Schatz.«
Er nimmt seinen Federbuschhelm ab, stampft mit dem Fuß auf das Vordeck und sagt zornig: »Du bist mir weggelaufen.«
»Ja, ganz recht.«
»Schlampe.«
»Vielleicht.« Helena richtet ihre Beinschienen. »Ich könnte vorgeben, von der gelächterliebenden Aphrodite verhext worden zu sein, aber das wäre eine gemeine Lüge. Tatsache ist, Paris hat mich um den Verstand gebracht. Ich bin verrückt nach ihm. Tut mir leid.« Sie läßt ihre ausgetrocknete Zunge über die ausgedörrten Lippen gleiten. »Hast du irgend etwas zu trinken?«
Menelaos senkt einen hohlen Flaschenkürbis in seine Privatzisterne und bietet ihr einen halben Liter Frischwasser an. »Was führt dich also her?« fragt er.
Helena nimmt die Schöpfkelle an. Sie stellt ihre Stiefel weit auseinander, um das Rollen der auflaufenden Tide auszubalancieren und trinkt gierig einen Schluck. Endlich sagt sie: »Ich möchte aufgeben.«
»Was?«
»Ich will mit dir heimgehen.«
»Du meinst … du denkst, unsere Ehe verdient eine zweite Chance?«
»Nein, ich denke, all die Infanteristen da draußen verdienen zu leben. Wenn dieser Krieg wirklich geführt wird, mich zurückzuholen, betrachte die Aufgabe als erledigt.«
Helena wirft die Kelle beiseite und streckt die Hände aus, Handflächen nach oben, als prüfe sie, ob Regen fällt. »Ich gehöre dir, Männe. Feßle meine Hände, kette meine Füße zusammen, wirf mich in die Brigg.«
Entgegen aller Wahrscheinlichkeit, allen logos trotzend, verliert Menelaos’ Gesicht noch mehr Farbe. »Ich glaube nicht, daß das eine sehr gute Idee ist«, sagt er.
»Hm? Was meinst du?«
»Diese Belagerung, Helena – da steckt mehr dahinter, als du denkst …«
»Schubs mich nicht rum, Herr aller Lakedaimonen, Arschloch. Es ist Zeit, aufzuhören.«
Der König Spartas starrt ihr direkt auf die Brust, eine Angewohnheit, die sie immer als ärgerlich empfunden hat. »Hast ein bißchen Gewicht zugelegt, was, Liebling?«
»Wechsel nicht das Thema.« Sie stürzt auf Menelaos’ Schwertscheide zu, als wolle sie ihn fertigmachen, statt dessen zieht sie seine Waffe heraus. »Es ist mir bitterernst: wenn Helena von Troja nicht gestattet wird, selbstbestimmt zu leben«, sie deutet in einer Pantomime Selbstmord an, »dann wird sie sich umbringen.«
»Weißt du was«, sagt ihr Mann und nimmt ihr seine Waffe weg. »Gleich morgen früh gehe ich zu meinem Bruder und bitte ihn, einen Waffenstillstand mit deinem Schwiegervater auszuhandeln.«
»Er ist nicht mein Schwiegervater. Es gab keine Hochzeit.«
»Einerlei. Der Punkt ist, dein Angebot hat was für sich, aber es muß diskutiert werden. Wir werden uns von Angesicht zu Angesicht treffen, Trojaner und Achaier und die Sache besprechen. Für den Augenblick kehrst du am besten zu deinem Liebhaber zurück.«
»Ich warne dich – ich dulde kein Blut mehr an meinen Händen, keines außer meinem eigenen.«
»Natürlich, Liebes. Geh jetzt bitte zurück in die Zitadelle.«
Wenigstens hat er zugehört, überlegt Helena, als sie das wettergegerbte Deck der Arkadia überquert. Zumindest hat er nicht gesagt, ich soll mir darüber nicht meinen hübschen kleinen Kopf zerbrechen.
»Jetzt kommt der langweilige Teil«, sagt der quengelige Damon.
»Die Szene mit dem ganzen Gerede«, fügt die naseweise Daphne hinzu.
»Kannst du die ein bißchen abkürzen?« fragt mein Sohn.
»Schsch«, mache ich und glätte Damons Bettdecke. »Keine Unterbrechungen«, beharre ich. Ich stopfe Daphne ihre Maishülsenpuppe unter den Arm. »Wenn ihr selbst Kinder habt, könnt ihr die Geschichte erzählen, wie ihr wollt. Bis dahin, hört gut zu. Ihr lernt vielleicht etwas dabei.«
An den brodelnden, stürzenden Wassern des Flusses Simoeis, unter der orangeglühenden Verkörperung der Mondgöttin Artemis sitzen im Purpurzelt des Oberkommandos von Ilium zehn Aristokraten um einen großen Eichentisch versammelt, allesamt berstend vor Meinungen darüber, wie mit dieser Helena-Situation, diesem Friedensproblem, dieser trojanischen Geiselkrise am besten zu verfahren sei. Weiß wie ein Kranich flattert das Waffenstillstandsbanner über den Köpfen der beiden Könige, Priamos aus der hohen Stadt, Agamemnon von den langen Schiffen. Jede Seite hat ihre Besten und/oder Klügsten gesandt. Für die Trojaner: der geistreiche Panthoos, der mächtige Paris, der unbesiegbare Hektor und Hiketaon, der Sproß des Ares. Für die achaiische Sache: Ajax, der Berserker, Nestor, der Mentor, Menelaos, der Gehörnte, und der listige, lächelnde Odysseus. Von allen Geladenen schmollt nur der zänkische Achilles in seinem Zelt und hat sich geweigert zu erscheinen.
Panthoos erhebt sich, reibt sich den schaumweißen Bart und legt sein Zepter auf den Tisch. »Königliche Kapitäne, begabte Seher«, beginnt der alte Trojaner, »ich denke, Ihr werdet beipflichten, wenn ich sage, daß wir seit Beginn der Belagerung keiner so großen Herausforderung gegenüberstanden. Täuscht Euch nicht: Helena will uns unseren Krieg wegnehmen, und zwar hier und jetzt.«