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Rufe des Entsetzens wehen durch das Zelt wie Winde aus der Unterwelt.

»Wir können jetzt nicht aufhören«, stöhnt Hektor, heftig zusammenzuckend.

»Wir kommen gerade erst auf Touren«, jammert Hiketaon, kräftig grimmassierend.

Agamemnon steigt von seinem Thron herab und trägt das Zepter wie einen Speer. »Ich habe eine Frage an Prinz Paris«, sagt er. »Was sagt die Bereitschaft deiner Geliebten, nach Argos zurückzukehren, über den gegenwärtigen Stand Eurer Beziehung aus?«

Paris streicht sich über die kräftigen Wangen und sagt: »Wie Ihr vielleicht vermutet, großer König, basieren meine Gefühle für Helena auf Belohnung.«

»Ihr wollt sie also nicht gewaltsam in Pergamos behalten?«

»Wenn sie mich nicht will, will ich sie auch nicht.«

An welchem Punkt Ajax mit dem tappigen Verstand seine Hand hebt. »Äh … entschuldigt. Ich bin ein bißchen verwirrt. Wenn wir Helena nur bitten müssen, mitzukommen, warum müssen wir dann den Krieg fortsetzen?«

Ein Schirokko des Erstaunens erhebt sich unter den Helden.

»Warum?« keucht Panthoos. »Warum? Weil dies Troja ist, darum. Weil wir hier die westliche Zivilisation beginnen, deshalb. Je länger wir diese Affäre am Köcheln halten, je länger wir eine so unklare Unternehmung aufrechterhalten können, desto wertvoller und bedeutender wird sie.«

Ajax mit den behäbig arbeitenden Synapsen sagt: »Hä?«

Nestor muß sich nur räuspern, und alle Augen sind auf ihn gerichtet. »Was unser Gegner sagt – darf ich es interpretieren, weiser Panthoos?« Er wendet sich seinem trojanischen Gegenstück zu, verneigt sich ehrfürchtig, erhält ein zustimmendes Nicken und spricht zu Ajax. »Panthoos meint, falls dieser besondere Kriegsgrund – eine Frau ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben – als vernünftig dargestellt werden kann, kann jeder Vorwand für einen Krieg als vernünftig dargestellt werden.« Der Mentor schwenkt seinen fiebrigen Blick von Ajax auf die gesamte Versammlung. »Indem wir uns dieser seltenen und wertvollen Gelegenheit gewachsen zeigen, ebnen wir den Weg für Religionskriege, Schicksalskriege – für Kriege aus jedem fragwürdigen Grund, der Euch einfällt.« Noch einmal fällt sein Blick zufällig auf Ajax. »Verstanden, Herr Kollege? Dies ist der Krieg zur Einführung des Krieges an sich. Dies ist der Krieg, um die Welt sicher zu machen für den Krieg.«

Ajax runzelt so heftig die Stirn, daß sein Visier herunterklappt. »Ich weiß nur, wir sind wegen Helena gekommen, wir haben sie. Auftrag erfüllt.« Sich Agamemnon zuwendend, hebt der Berserker das Visier von seinen Augen. »Also, wenn es Euch nichts ausmacht, Majestät, würde ich gern heimgehen, bevor ich umgebracht werde.«

»Oh, Ajax, Ajax, Ajax«, stöhnt Hektar, zieht einen Pfeil aus seinem Köcher und kratzt sich damit den Rücken. »Wo ist Euer Sinn für Ästhetik? Könnt Ihr den Krieg nicht um seiner selbst willen würdigen? Die Ebenen Iliums sind aufgewühlt vom Ruhm, Mann. Man kann die Arete mit dem Messer schneiden. Nie hat es so heroische Verstümmelungen gegeben, so ehrwürdige Zerstückelungen, solch …«

»Ich kapier’s«, sagt der Berserker. »Ich kapier’s einfach nicht.«

Woraufhin Menelaos seinen Weinpokal mit widerhallendem Knall auf den Tisch stellt. »Wir haben uns nicht in Priamos’ Zelt versammelt, damit Ajax Politik lernt«, sagt er ungeduldig. »Wir haben uns versammelt, um bestmöglich über meine Frau zu entscheiden.«

»Wie wahr, wie wahr«, sagt Hektar.

»Also, was sollen wir tun, meine Herren?« fragt Menelaos. »Sie einsperren?«

»Gute Idee«, sagt Hiketaon.

»Nun ja«, sagt Agamemnon und sackt auf seinen Thron zurück. »Außer daß meine Truppen nach dem Ende des Krieges verlangen werden, sie zu sehen. Könnten die sich nicht wundern, warum so viele Leiden und Opfer für eine heruntergekommene Göttin erbracht wurden?« Er wendet sich an Paris und sagt: »Prinz, das hättet Ihr nicht zulassen sollen.«

»Was zulassen?« fragt Paris.

»Ich hörte, sie hat Falten«, sagt Agamemnon.

»Ich hörte, sie ist fett geworden«, sagt Nestor.

»Was habt Ihr ihr zu essen gegeben?« fragt Menelaos. »Bonbons?«

»Sie ist ein Mensch«, protestiert Paris, »keine Marmorstatue. Ihr könnt kaum mir die Schuld geben …«

Bei welchem Stand der Dinge König Priamos sein Zepter erhebt, und es in die Erde rammt, als wolle er Gaia selbst verwunden.

»Edle Herren, ich sage das nicht gern, aber die Bedrohung ist unmittelbarer, als Ihr vielleicht annehmt. In den Anfangsjahren der Belagerung wirkte der Anblick der schönen Helena, wie sie über Schutzwälle ging, Wunder auf die Kampfmoral meiner Armee. Jetzt, da sie nicht mehr tauglich ist für öffentliche Auftritte, nun …«

»Ja?« sagt Agamemnon und wappnet sich vor dem Schlimmsten.

»Nun, ich weiß einfach nicht, wie lange Troja seinen Krieg noch aufrechterhalten kann. Wenn die Lage sich nicht bessert, müssen wir vielleicht bis nächsten Winter kapitulieren.«

Ausrufe des Entsetzens wehen über den Tisch, rütteln am Zelteingang und kräuseln die Umhänge der Aristokraten. Doch nun spricht der kluge, umsichtige Odysseus zum erstenmal zum Rat, und der Wind der Uneinigkeit legt sich. »Unser Kurs ist offensichtlich«, sagt er. »Unsere Bestimmung ist klar«, versichert er. »Wir müssen Helena – die alte Helena, die makellose Helena – wieder auf die Mauern stellen.«

»Die alte Helena?« sagt Hiketaon. »Die makellose Helena? Ist das nicht reines Phantasiegerede, einfallsreicher Odysseus? Besingt Ihr nicht einen Mythos?«

Der Herr über ganz Ithaka durchschreitet, seinen seidigen Bart streichend, der Länge nach Priamos’ Zelt. »Es erfordert einige Weisheit von Pallas Athene, einige Technologie von Hephaistos, doch ich denke, das Projekt ist möglich.«

»Entschuldigt«, sagt Paris. »Welches Projekt ist möglich?«

»Eure kleine Dirne aufzupolieren«, sagt Odysseus. »Die liebe, süße Hure strahlen zu lassen wie neu.«

Helena wandert vor und zurück, hin und her durch ihr Boudoir und tritt einen gezackten Pfad der Angst in ihren Teppich. Eine Stunde vergeht. Dann zwei. Was reden die so lange?

Was am meisten an ihr nagt, der Gedanke, der ihr das Innere zerfrißt, ist die Möglichkeit, daß sie den Einsatz erhöhen muß, sollte der Rat ihr Kapitulationsangebot ablehnen. Und wie könnte ihr diese Tat gelingen? Durch welche Mittel könnte sie eine einfache Passage auf Charons[13] Fähre buchen? Wahrscheinlich durch etwas aus dem Arsenal ihres Liebhabers – ein Schwert, Speer, Dolch oder einen totschleudernden Bogen. O bitte, mein Herr Apollo, betet sie zum Hauptbeschützer der Stadt, laß es nicht dazu kommen.

Bei Sonnenuntergang betritt Paris den Raum, der Schritt bleiern, die Wangen hängend, der Mund zur Grimasse verzerrt. Zum erstenmal bemerkt Helena Tränen in den Augen Ihres Geliebten.

»Es ist zu Ende«, stöhnt er und nimmt seinen Federbuschhelm ab. »Der Frieden ist da. Im Morgengrauen mußt du zu den langen Schiffen gehen. Menelaos wird dich zurückbringen nach Sparta, wo du wieder als Mutter seiner Kinder, Freundin seiner Konkubinen und Agentin in seinem Bett leben wirst.«

Erleichterung entströmt Helena tief und orgiastisch, doch das Vergnügen ist von kurzer Dauer. Sie liebt diesen Mann, mitsamt seinen Fehlern und Erschlaffungen. »Du wirst mir fehlen, liebster Paris«, sagt sie ihm. »Wie du mich kühn, gewaltsam entführt hast, bleibt der Höhepunkt meines Lebens.«

»Ich habe dem Abkommen nur zugestimmt, weil Menelaos glaubt, daß du dich sonst umbringen könntest. Du bist eine erstaunliche Frau, Helena. Manchmal glaube ich, dich kaum zu kennen.«

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13

Charon – griech. Mythos: Fährmann, der die Toten über den Grenzfluß in die Unterwelt bringt – Anm. d. Übers.