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»Schsch, mein Liebling«, sagt sie und legt ihm sanft ihre Hand auf den Mund. »Keine Worte mehr.« Langsam entkleiden sie einander, methodisch die Pforten zum Glück öffnend, die Gürtel und Schärpen, die Schließen und Haken, und so beginnt ihre letzte epische gemeinsame Nacht.

»Entschuldige, daß ich so kritisch war«, sagt Paris.

»Ich nehme deine Entschuldigung an«, sagt Helena.

»Du bist so schön«, erzählt er ihr. »So unmöglich schön …«

»Ahhh …«

Als die Morgendämmerung rosige Finger über den trojanischen Himmel streckt, steuert Eniopeus, Hektors treuer Fahrer, Sohn des pferdeliebenden Thebaios, den robusten Streitwagen am Ufer des Mäander entlang und bringt Helena zur Festung der Achaier. Sie erreichen die Arkadia, als gerade die Sonne aufgeht, so wird ihre Ankunft im Hafen zur flammenden Parade, einer Schau aus Funken und Gold, als führen sie auf den brennenden Rädern Hyperions.[14]

Helena geht am Dock entlang, vorbei an Scharen kreischender Möwen, die in der frühen Morgenbrise dahintreiben. Menelaos kommt ihr entgegen und begrüßt sie, begleitet von einem Mann, gegen den Helena stets eine leichte Abneigung gehegt hat – der breitbrüstige, schwarzbärtige Teukros, illegitimer Sohn von Telamon.

»Die Flut ist da«, sagt ihr Mann. »Du mußt sofort mit Teukros an Bord gehen. Du wirst in ihm einen anregenden Reisebegleiter finden. Er kennt hundert Fabeln, und er spielt Harfe.«

»Kannst du mich nicht heimbringen?«

Menelaos drückt die Hand seiner Frau, führt sie an seine Lippen und küßt sie sacht. »Ich muß das Beladen meiner Schiffe überwachen«, erklärt er, »die Verteilung meiner Bataillone – Arbeit für eine ganze Woche, vermute ich.«

»Sicher kannst du das Agamemnon überlassen.«

»Gib mir sieben Tage, Helena. In sieben Tagen bin ich zu Hause, und wir können anfangen, die Scherben unserer Ehe zu kitten.«

»Wir versäumen die Flut«, sagt Teukros und verschränkt nervös die Finger.

Vertraue ich meinem Mann? fragt sich Helena, während sie die Laufplanke zur Arkadia hinaufgeht. Hat er wirklich vor, die Belagerung zu beenden?

Während der langsamen Fahrt aus dem Hafen hat Helena ein ungutes Gefühl. Vage Ängste, nagende Zweifel und seltsame Vorahnungen schwirren ihr durch den Kopf wie Harpyien.[15] Sie fleht ihren geliebten Apollo an, mit ihr zu reden, sie zu beruhigen, ihr zu versichern, daß alles gut sei, doch die einzigen Geräusche, die an ihr Ohr dringen, sind das Knarren der Ruder und die windige, wässerige Stimme des Hellespont.

Als die Arkadia die offene See erreicht, ist Helena entschlossen, über Bord zu springen und zurückzuschwimmen.

»Und dann hat Teukros versucht, dich umzubringen«, sagt Daphne.

»Er ist mit seinem Schwert auf dich losgegangen«, fügt Damon hinzu.

Dies ist für die Zwillinge der Lieblingsteil, der Moment voller Grauen und geronnenem Blut. Mit blitzenden Augen, die Stimme melodramatisch erhoben, erzähle ich ihnen, wie Teukros mich, seine janusgesichtige Klinge schwingend, über die Arkadia zu jagen begann, bevor ich meinen Fluchtplan ausführen konnte. Ich erzähle ihnen, wie ich die Oberhand gewann und den Bastard zu Fall brachte, als er mich gerade überrennen wollte.

»Du hast ihn mit seinem eigenen Schwert erstochen, nicht wahr, Mami?« fragt Damon.

»Ich hatte keine Wahl. Das versteht ihr doch, oder?«

»Und dann spritzten seine Gedärme raus, hm?« fragt Daphne.

»Agamemnon hatte Teukros beauftragt, mich zu töten«, erkläre ich. »Ich ruinierte ihnen alles.«

»Sie spritzten auf das ganze Deck, richtig?« fragt Damon.

»Ja, Liebling, das taten sie allerdings. Ich bin mir ziemlich sicher, Paris war in das Komplott nicht eingeweiht, Menelaos auch nicht. Eure Mutter verliebt sich in Narren, aber nicht in wahnsinnige Mörder.«

»Welche Farbe hatten sie?« fragt Damon.

»Farbe?«

»Seine Gedärme?«

»Rot, meistens, mit bläulichen und schwarzen Klecksen.«

»Toll.«

Ich erzähle den Zwillingen von meinem langen, anstrengenden Schwimmen durch die Meerenge.

Ich erzähle ihnen, wie ich Iliums kriegszerstörte Felder überquerte, Pfeilen auswich und Patrouillen entging.

Ich erzähle, wie ich am Skalischen Tor wartete, bis ein Bauer mit einer Karrenladung Futter für die belagerte Stadt kam … wie ich, zwischen Weizengarben verborgen, in die Stadt gelangte … wie ich nach Pergamos ging, mich im Apollotempel versteckte und atemlos auf die Morgendämmerung wartete.

Der Morgen dämmert herauf und bindet die östlichen Wolken in karmesinrote Schärpen. Helena verläßt die Zitadelle, schleicht auf Zehenspitzen zur Mauer und erklettert die hundert Granitstufen zu den Zinnen. Sie ist sich ihres nächsten Schrittes nicht sicher. Sie hat eine vage Hoffnung, die Männer der Infanterie ansprechen zu können, wenn sie sich am Tor versammeln. Ihre Argumente konnten die Generäle nicht beeindrucken, aber vielleicht kann sie das Herz eines gewöhnlichen Soldaten rühren.

Und genau an diesem unklaren Punkt ihres Schicksals begegnet Helena sich selbst.

Sie blinzelt – einmal, zweimal. Sie schluckt eine Sphäre Luft. Ja, sie ist es, sie selbst marschiert die Brüstungen entlang. Sie selbst? Nein, nicht genau: eine idealisierte Abbildung ihrer selbst, die Helena von vor zehn Jahren, grazil und lieblich.

Während die Truppen in Richtung Ebene durch das Portal marschieren, ruft die sonderbare Verkörperung zu ihnen hinunter:

»Vorwärts Männer!« ruft sie und hebt einen cremeweißen Arm. »Kämpft für mich!« Ihre Bewegungen sind gemächlich und ruckartig, als wäre das sonnenverbackene Troja auf wundersame Weise in ein frostiges Klima verpflanzt worden. »Ich bin es wert!«

Die Soldaten drehen sich um, sehen hinauf. »Wir kämpfen für dich, Helena!« ruft ein Bogenschütze zur Brüstung empor.

»Wir lieben Euch!« ruft ein Schwertkämpfer.

Die Verkörperung winkt unbeholfen. Knarrend wirft sie ihnen eine Kußhand zu. »Vorwärts Männer! Kämpft für mich! Ich bin es wert!«

»Ihr seid schön, Helena!« schreit ein Speerwerfer.

Helena schreitet auf ihre Doppelgängerin zu, packt sie bei der linken Schulter und dreht sie zu sich her.

»Vorwärts, Männer!« sagt die zu Helena. »Kämpft für mich! Ich bin es wert!«

»Ihr seid schön«, fährt der Speerwerfer fort, »und Eure Mutter auch!«

Die Augen sind, wie Helena ohne Überraschung entdeckt, aus Glas. Die Glieder sind aus Holz gearbeitet, der Kopf ist aus Marmor, die Zähne sind aus Elfenbein, die Lippen aus Wachs, die Locken aus dem Flies eines dunkel werdenden Widders. Helena weiß nicht genau, welche Mächte dieser Kreatur Kraft geben, welcher Zauber die Zunge bewegt, doch sie vermutet, daß das Genie der Athene hier am Werk ist, die Zauberkraft der kuhäugigen Hera. Hack die Kreatur auf, so spürt sie, und heraus fallen tausend Räder und Kolben aus Hephaistos’ feuriger Werkstatt.

Helena verliert keine Zeit. Sie umarmt die Kreatur und hebt sie hoch. Schwer, aber nicht so schwer, um ihre Entschlossenheit zu dämpfen.

»Vorwärts, Männer!« schreit die Kreatur, als Helena sie sich über die Schulter wirft. »Kämpft für mich! Ich bin es wert.«

Und so geschieht es, daß an einem heißen, schweißtreibenden kleinasiatischen Morgen, die schöne Helena das Rad der Geschichte verdreht, und sich fröhlich selbst aus der erhabenen Steinstadt Troja entführt.

Paris zieht einen Giftpfeil aus seinem Köcher, um eine Prise Schierling in die Brust eines achaiischen Kapitäns zu schießen, als der Streitwagen seines Bruders vorbeirumpelt.

Paris legt den Pfeil auf die Kerbe. Er blickt flüchtig zum Wagen.

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14

Hyperion – einer der Titanen des griechischen Mythos – Anm. d. Übers.

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15

Harpyien – weibliche Unheilsdämonen – Anm. d. Übers.