Er zielt.
Blickt nochmal hin.
Schießt. Daneben.
Helena.
Helena? Helena, bei Apollos Leier, seine Helena – nein, zwei Helenas, die echte und die falsche Seite an Seite, die echte lenkt den Wagen ins Kampfgetümmel, ihr hölzerner Zwilling starrt verträumt in die Luft. Paris weiß nicht genau, der Anblick welcher der beiden Frauen ihn mehr erstaunt.
»Soldaten von Troja!« schreit die fleischliche Helena. »Heroen von Argos! Schaut, wie Eure Führer Euch hintergehen! Ihr kämpft für ein Trugbild, einen Schwindel, ein Ding aus Zahnrädern und Glas!«
Stille umschließt das Schlachtfeld. Die Männer sind verblüfft, nicht so sehr wegen der tobenden Wagenlenkerin, als durch das Gesicht ihrer Begleiterin, so rein und perfekt trotz des Lederriemens, der ihr die Kiefern fest verschließt. Das ist ein Gesicht, um tausend Schwerter in die Scheiden zurückzustecken, ein Gesicht, um tausend Speere zu senken, ein Gesicht, um tausend Pfeile aus den Kerben zu nehmen.
Und genau das passiert jetzt. Tausend Schwerter: gleiten in die Scheiden zurück. Tausend Speere: werden gesenkt. Tausend Pfeile: werden aus den Kerben genommen.
Die Soldaten drängen sich um den Streitwagen, betatschen die Ersatz-Helena. Sie berühren die hölzernen Arme, liebkosen die Marmorstirn, streicheln die Elfenbeinzähne, tätscheln die Wachslippen, drücken das wollige Haar und reiben die Glasaugen.
»Seht Ihr, was ich meine?« schreit die echte Helena. »Eure Könige beschwindeln Euch …«
Paris kann nicht anders: Er ist stolz auf sie, bei Hermes’ Flügeln. Er bläht sich auf vor Bewunderung. Diese Frau hat Nerven, diese Frau hat Arete, diese Frau hat Chutzpah.[16]
Diese Frau, erkennt Paris, als eine fette warme Träne der Nostalgie über seine Wange rinnt, wird den Krieg beenden.
»Ende«, sage ich.
»Und was passierte dann?« fragt Damon.
»Nichts. Finis. Schlaf jetzt.«
»Du kannst uns nicht zum Narren halten«, sagt Daphne. »Alle möglichen Dinge sind hinterher passiert. Du bist auf die Insel Lesbos gegangen, um dort zu leben.«
»Nicht sofort«, bemerke ich. »Ich bin sieben Jahre durch die Welt gewandert und hatte viele schöne und fabelhafte Abenteuer. Gute Nacht.«
»Und dann bist du nach Lesbos gegangen«, beharrt Daphne.
»Und dann kamen wir auf die Welt«, bestätigt Damon.
»Stimmt«, sage ich. Die Zwillinge sind immer daran interessiert, wie sie auf die Welt kamen. Sie werden nicht müde, davon zu hören.
»Die Frauen von Lesbos importieren jährlich über tausend Liter gefrorenen Samen«, erklärt Damon Daphne.
»Aus Thrake«, erklärt Daphne Damon.
»Im Tausch für Oliven.«
»Ein blühender Handel.«
»Richtig, Schatz«, sage ich. »Schlafenszeit.«
»Und so wurdest du schwanger«, sagt Daphne.
»Und bekamst uns«, sagt Damon.
»Und brachtest uns nach Ägypten.« Daphne zerrt an meinem Ärmel, als betätige sie einen Klingelzug. »Ich kam zuerst heraus, nicht wahr?« sagt sie. »Ich bin die Älteste.«
»Ja, Liebes.«
»Bin ich deshalb klüger als Damon?«
»Ihr seid beide gleich klug. Ich blase jetzt die Kerze aus.«
Daphne drückt ihre Maishülsenpuppe an sich und sagt: »Hast du wirklich den Krieg beendet?«
»Das Abkommen wurde am Tag, nachdem ich aus Troja geflohen war, unterzeichnet. Natürlich hat der Frieden die Toten nicht wieder zum Leben erweckt, doch zumindest wurde Troja nie geplündert und niedergebrannt. Und jetzt schlaft – beide.«
Damon sagt: »Nicht, bevor wir …«
»Was?«
»Du weißt schon.«
»Also gut«, sage ich. »Ein Blick. Ein rasches Hingucken, und dann ab mit euch in Morpheus’ Arme.«
Ich schlendere hinüber zum Schrank, ziehe den Leinenvorhang beiseite und zeige meinen getreuen Zwilling, der aufrecht zwischen Daphnes Kleidern und Damons Roben steht. Sie lächelt im Halbdunkel. Diese Frau ist eine unermüdliche Lächlerin.
»Hallo, Tante Helena!« sagt Damon, als ich das Bronzegelenk bewege, das aus dem Nacken meiner Schwester herausragt.
Sie winkt meinen Kindern zu und sagt: »Vorwärts, Männer! Kämpft für mich!«
»Darauf kannst du wetten, Tante Helena!« sagt Daphne.
»Ich bin es wert!« sagt meine Schwester.
»Aber sicher!« sagt Damon.
»Vorwärts Männer! Kämpft für mich! Ich bin es wert!«
Ich schalte sie ab und ziehe den Vorhang zu. Dann decke ich die Zwillinge zu und gebe jedem einen dicken Schmatz auf die Wange. »Ich liebe dich, Daphne. Ich liebe dich, Damon.«
Ich greife nach der Kerze, um sie zu löschen – verharre. Ich sollte es gleich erledigen, ehe ich es vergesse. Ich kehre zum Schrank zurück, schiebe den Vorhang beiseite, ziehe das Taschenmesser aus meiner Robe und klappe die Klinge heraus. Und dann, während die ägyptische Nacht feucht und drückend wird, kerbe ich sorgfältig eine weitere Falte auf der Stirn meiner Schwester ein, direkt unter ihrem graumelierten Pony.
Schließlich ist es wichtig, gleich auszusehen.
Originaltiteclass="underline" ›ARMS AND THE WOMAN‹ • Copyright © 1991 by TSR Publications, Inc. • Erstmals erschienen in ›Amazing Stories‹, Juli 1991 • Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Uwe Luserke, Literarische Agentur, Stuttgart • Copyright © 1996 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München • Aus dem Amerikanischen übersetzt von Margret Krätzig • Illustriert von Werner Ruhner
Václav Kajdoš • Tschechien
DAS UNLÖSBARE PROBLEM
Die Maschinen blinzelten mit rötlichen und grünen Augen in die schattenlose Abenddämmerung und füllten das Laboratorium mit stillem, ununterbrochenem Summen. »Also das ist es?« sagte Gal und zeigte auf den leuchtenden Würfel auf dem Tisch. »So ein Spielzeug. Du hast mir doch versprochen …«
»Ja das habe ich«, unterbrach ihn der andere und sah ihn scharf an. »Ich brauche dich doch nicht an dein eigenes Versprechen zu erinnern?«
»Daß ich schweigen werde?«
Der Wissenschaftler antwortete nicht und trat zu dem Würfel. Er heftete seinen Blick auf die durchsichtigen Wände des Geräts. Sie schwiegen.
Mehr oder weniger war es ein einfacher Würfel. Er schnitt prosaisch mit seinen scharfen Rändern durch den Raum, zerdrückte die Schönheit durch die kalte Mathematik der rechtwinkligen Schnittlinie seiner Kanten. Das war die Oberfläche. Nach längerer Beobachtung drang sein Blick durch die matten Wände und konnte sich schon nicht mehr losreißen. Etwas hinderte das Auge, die glatten, leuchtenden Wände zu verlassen und aus dem Netz der Kanten und Winkel zu flüchten. Gal senkte nur mit Mühe den Blick.
»Was ist los mit dir?« fragte der Wissenschaftler.
Der Angesprochene lächelte beschämt und schüttelte den Kopf. »Ach, das hat nichts zu bedeuten, das vergeht wieder.«
»Also du auch?« sagte der andere langsam.
»Es ist … lebendig!« stieß er mühsam hervor, als würde er gegen eine Last ankämpfen.
Das Gerät bannte erneut seinen Blick und hielt ihn fest in dem Alabasterlicht, das in den Linien eingesperrt war. Ja, es lockte ihn auch eine eisglatte Fläche, unter der sich Nebelwürmer und Reigen von Funken ringelten. Im Innern pulsierte es blaß. An einigen Stellen kumulierten die Gaswolken in schwellende und gärende Flocken, anderswo blitzten helle Strömungen. Schatten tappten wie Kraken, die eine Wasserfinsternis umarmten. Nein, berichtigte er sich, das ist nicht lebendig.
Eine Anhäufung von leuchtendem Gas, das in einer würfeligen Kammer mit durchsichtigen Wänden verteilt ist. Das ist auch alles.