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»Als wir dich zum erstenmal sahen, wußten wir sofort, wie wir dich nennen würden«, erklärte Jean. Wie meistens, wenn er mit seinem Kind allein war, sprach er im weichen Singsang seiner Muttersprache. »Schau her, das bist du, als du drei Tage alt warst. Siehst du, wie winzig deine Hände damals waren?«

Adam sah zur anderen Seite des Zimmers. Dort war gerade Michael zu sehen, der mit einem Kind im Arm auf einem seltsamen Bett saß. Das Kind nuckelte schmatzend an Michaels Brust. Adam sprang von Jeans Knie herunter und rannte durch den Raum. Er beobachtete die Szene einen Moment, dann stieß er dem Baby die Hand durch den Kopf. Jean lachte, und als er plötzlich den Kopf bewegte, rann Wasser von seinem nassen schwarzen Haar über seine nackten Schultern. Sie hatten gerade geduscht, und beide waren nackt. Adam rannte zurück und setzte sich wieder auf das Knie seines Vaters. Er klatschte eine Hand auf Jeans Brust. »Weg«, sagte er.

»Ja.«

»Wohin?«

Jean zögerte. Lange bevor Adam entbunden oder schon bevor er überhaupt gezeugt worden war, hatte er sich geschworen, seinem Sohn immer die Wahrheit zu sagen. Aber damals hatte er nicht gewußt, wie schwer das manchmal sein würde. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Wenn wir noch ein Kind bekommen würden, dann würden sie wiederkommen. Michael-Papa würde das mögen. Was meinst du?«

Adam schüttelte den Kopf und kicherte, als das Wasser in alle Richtungen spritzte. Er machte es gleich noch einmal. Jean rief etwas, schnappte sich ein Handtuch und hüllte Adam völlig darin ein. Adam krabbelte hervor, kicherte und schüttelte wieder den Kopf – und ein kleines Spiel wurde geboren.

Als das Spiel vorbei war, war Adam trocken und angezogen und bereit fürs Bett. Jean war naß und zerzaust und müde. Er setzte sich auf den Boden und sah zu, wie Adam die ›Bilder‹ durchging. Ab und zu sprang Adam von seinem Sitzplatz auf und rannte durchs Zimmer, um ein Bruchstück der Vergangenheit genauer anzustarren, zu treten oder zu durchlöchern. Zwischendurch legte er den Kopf auf den Arm und sah sehr müde aus.

Jean wußte, daß er eigentlich mit dem Abendessen beginnen mußte, aber er hatte keine Lust. Vor ihm auf dem Kaffeehaustisch lagen Reiseprospekte und Broschüren des Geburtszentrums einträchtig nebeneinander, jeweils eine andere Fülle prächtiger Möglichkeiten anbietend. Tausendundein Ort am Meer und in der Sonne. Hundert Schattierungen gesunden blonden Haars.

Michael wollte einen zweiten Sohn. Er liebte die Hilflosigkeit und die schlaflosen Nächte und die bekleckerten Hemden. Er wollte wichtige Entscheidungen treffen. Wikingerblondes Haar, braune Augen und etwas, das die Prospekte als ›optimale Figur‹ bezeichneten. Jean erinnerte sich daran, wie sich Michaels Brüste unter seinen Händen angefühlt hatten. An ihren süßen Geschmack auf seiner Zunge. Aber es war eine Süße, die durch Michaels Unrast bedrückend wurde. Durch Streitereien und Spannungen. Michael war zu angepaßt, zu konservativ. Es war deshalb ein gefährliches Vergnügen.

Adam schlief schon, als Michael nach Hause kam. Michael trug ihn ins Bett, während Jean einen Salat machte. Eine Flasche Wein und mehrere Stunden später waren die Prospekte des Geburtszentrums vergessen. Sie hatten sich für Thásos entschieden.

»Ich wollte nicht, daß du das siehst. Das hat nichts mit dir zu tun. Es hat nichts mit uns zu tun.« Das war Jeans Stimme, gefährlich weich und leise.

Adam war schon eine Weile wach gewesen und hatte, im Dunklen liegend, ihrem Flüstern zugehört. Er liebte das vertraute Auf und Ab ihrer Stimmen. Wenn es ein langes Schweigen gab, wußte er, daß sie sich küßten. Dann war einer von ihnen, Michael-Papa, dachte Adam, ins Schlafzimmer gegangen. Er hatte gehört, wie die Schritte durchs Zimmer tappten, wie Schubladen geöffnet und wieder geschlossen wurden. Er hatte gehört, wie Michael sagte, daß er es nicht finden konnte. Und wie Jean erwiderte, daß es keine Rolle spielte. Michael sagte leise, einen Moment noch. Dann hatte es ein langes Schweigen gegeben, und als Michael ins Nebenzimmer zurückgekehrt war, hatte ihre Unterhaltung nicht mehr beruhigend geklungen.

Adam wünschte, er hätte geschlafen. Er wünschte, er hätte nicht die leisen Explosionen ihrer Wut anhören müssen. Bis jetzt hatte er nur hin und wieder einmal ein einzelnes Wort verstehen können. Er langte nach unten und schob sich die Hand zwischen die Beine. Michael sagte gerade:

»Natürlich hat das was mit uns zu tun. Es hat jede Menge mit uns zu tun.«

Und Jean erwiderte: »Reiß dich zusammen, du weckst Adam auf!«

»Mein Gott, Adam!« sagte Michael. Es klang, als wäre ihm gerade etwas Schreckliches eingefallen. »Wird er … hast du … mein Gott. Ich kann es nicht fassen. Ich dachte, ich kenne dich. Ich dachte, du liebst mich – und die ganze Zeit wolltest du so was.«

Adam konnte Jeans Antwort nicht verstehen. Er zögerte einen Augenblick lang, dann stieg er aus dem Bett und ging zur Tür. Er öffnete sachte seine Schlafzimmertür. Nur einen Spaltbreit. Gerade weit genug, um etwas zu sehen.

Michael und Jean-Claude standen einander gegenüber. Michael hatte ein zerknülltes Stück Papier in der Hand. Er weinte. Jean war blaß, schien aber beherrscht. Er ging einen Schritt auf Michael zu, doch Michael wich zurück.

»Nicht«, sagte er. »Faß mich nicht an!«

»Michel, bitte.«

»Nicht. Nenn mich nicht so! Nie wieder!«

»Versuch doch wenigstens zu verstehen …«

»Nein.« Michael drehte sich um und ging zur Tür. Jean rief ihm nach, aber Michael blieb nicht stehen.

Die Tür schloß sich mit einem Geräusch, das wie eine Ohrfeige klang. Danach war es still.

Adam hatte nicht gewußt, daß Stille sich ausbreiten kann wie eine Welle. Daß sie über einen Menschen hereinbrechen und ihn ertränken und einem die Kehle vor Furcht verschnüren konnte. Er hatte nicht gewußt, wie unerträglich sie sein konnte. Er schob die Schlafzimmertür weiter auf. »Jean-Papa?«

»Geh ins Bett, Adam.«

Adam rührte sich nicht. Er stand nur da und starrte Jeans Hinterkopf an.

»Geh ins Bett«, sagte Jean noch einmal.

Adam ging und setzte sich auf sein Bett. Nach einer Weile kam Jean herein und setzte sich neben ihn. »Er wird zurückkommen«, sagte er.

Adam nickte.

»Was hast du gehört?«

Adam antwortete nicht. Jean nahm Adams Kopf zwischen beide Hände. »Michel-Papa ist wütend«, sagte er. »Weil er ein Bild von einer Frau gefunden hat.«

»Von einer Frau?«

»Ein Mensch, sozusagen. Ein Bild mit einer anderen Sorte Mensch.«

»Wie eine Elfe?« fragte Adam. Er dachte an die Märchen, die Opa Gilbert ihm über die starken kleinen Geschöpfe erzählt hatte, die auf Müllkippen wohnten und zu Raubzügen in die Städte kamen, wenn die Zeiten schwer waren.

»Nein, nicht wie eine Elfe«, sagte Jean. »Wie wir, nur anders.«

»Wie anders?«

»Nun … sie hatten die ganze Zeit Brüste. Aber keinen Perus. Sie konnten dafür Kinder bekommen. In ihren Bäuchen.«

Adam nickte und stellte sich ein Geschöpf vor, das so groß war wie das Geburtszentrum, mit Brüsten so groß wie Hügel, in dessen riesigem Magen Babies in langen Reihen eingesperrt waren. Er kuschelte sich auf Jeans Schoß zusammen und legte den Kopf gegen dessen flache Brust. »Haben sie die Babies gefressen?« wollte er wissen.

»Nein, die Babies sind in ihren Bäuchen gewachsen.«

Adam nuckelte am Daumen. »Aber wie sind sie rausgekommen?«

Jean zögerte. Spielte es wirklich eine Rolle, ob er die Wahrheit sagte oder log? »Durch eine Art Tür«, erklärte er. »Zwischen den Beinen der Frauen. Aber manchmal war die Tür nicht groß genug, und ein Mann mußte das Baby herausschneiden.« Er nibbelte Adams Arm. »Frauen haben viel geblutet«, sagte er. »Und viel geweint. Und manchmal wurden die Babies verletzt. Wenn sie in den Frauen drin waren, konnte nämlich niemand auf sie aufpassen. Deshalb haben sich die Ärzte etwas Besseres ausgedacht.«