»Woher willst du das wissen?«
»Ich habe es auch auf anderen Planeten gesehen – ich will sagen: Teilchen. Aber ich zeig’ es dir nicht. Wir müssen weiter.«
Der Bildschirm leuchtete von neuem auf. Diesmal schwebten sie über einer ockergelben Ebene, die mit falben und schwarzen Felsen besät war. Stellenweise änderte sich die Farbe in Rot, es sah aus wie große, blutige Wunden. Das Auge des Superultramikroskops sank herab, und nun beobachteten sie die Landschaft aus der Höhe von etwa zweihundert Metern.
In der Ferne glänzte der Wasserspiegel eines großen Stroms, entlang beider Ufer zogen sich Haine von schlanken Bäumen mit fächerartigen Blättern. Die Wüste verlor sich am Horizont, und dort erstarrte der Felsen in gelbroten Streifen, die an zwei reglos daliegende Schlangen erinnerten.
Aus dem Grün leuchteten Ansammlungen von würfelartigen Gebäuden. Sie häuften sich wie eine Schuttsammlung, elend und demütig um ein hohes und reich verziertes Bauwerk. Verschärfung auf das Bauwerk: Die schrägen Prismen der Türme verrieten das Können der Architekten, die sie gebaut hatten. Säulenreihen umliefen die zentralen Höfe, und an den Wänden wimmelte es von bunten Bildern. Einige stellten Halbmenschen und Halbtiere dar, merkwürdige, in die Länge gezogene Mäuler und Schnäbel auf menschlichen Rümpfen. Gestalten in langen weißen Gewändern spazierten auf den Höfen, und die Sonne glänzte auf ihren rasierten Schädeln.
»Die Zeiten vergingen …«, flüsterte der Bärtige. »Und das hier sind …«
»… Menschen«, ergänzte Gal verträumt. »Das sind Kunstwerke, dieses Gebäude gehört dazu. Dort studieren sie die Wahrheit und denken über die Fragen des Lebens und des Todes nach.«
»Nein«, widersprach der andere, »nicht die Wahrheit. Falls sie diese zufällig finden, packen sie sie in einen Unsinn ein. Die Gestalten an den Wänden – das sind ihre Götter.«
»Die Götter?«
»Wesen, die sie als ihre Beschützer und Schöpfer verehren – es sind nur Analogien des ausgetrockneten Hirschschädels vor der Höhle der Affenmenschen.«
»Und die Männer in Weiß und die Stadt rund um das große Gebäude?«
»Du meinst den Tempel?« warf der Bärtige ein.
»Also dieser Tempel dient ihnen nur, damit …«
»Damit sie die Frage des Lebens und des Todes enträtseln. Ja. Für die ist es die Frage des Lebens und des Todes.«
»Du machst Witze«, sagte Gal. »Die haben doch keine Maschinen, und die Landschaft um ihre Stadt ist doch die Wüste. Und die elenden Hütten und dagegen der herrliche Tempel – nein, ich verstehe das nicht. Die Frage des Lebens und des Todes heißt: die Wüste, die sie sonst erwürgt, bewässern, fruchtbar machen …«
»Für die gibt es etwas Wichtigeres als das. Sie sehen ständig zurück, bevor sie auf den langen Weg aufbrechen …«
Das Bild überflog die ockerfarbenen Flächen und blieb in einem Irrgarten von schwarzen Felsen stehen. Zwischen den sonnenglühenden Steinen wimmelten Leute wie Ameisen. Die kleinen Gestalten behauten die Felsblöcke, schleppten schwere Stücke auf roh gefügte Schlitten, sie fielen um vor Müdigkeit. Andere, etwas besser gekleidete, bewegten sich unter ihnen und schwangen Peitschen über ihren gebückten Rücken.
»Was machen die denn da?«
»Sie bereiten die Bausteine für den Bau des Tempels – von so einem Tempel, wie wir ihn gerade gesehen haben. Diesem Gebäude opfern sie alles.«
Vergrößerung: Ein nackter Mann, der auf dem Rücken einen Stein trug, stolperte und fiel aufs Gesicht. Der Stein zersprang in tausend Stücke. Der Büttel sprang zu ihm hin und erhob den Arm mit der Peitsche. Man konnte auf dem Bildschirm klar seine scharfen, sonnenbraunen Gesichtszüge sehen – da riß er die Augen weit auf, blickte direkt in den Bildschirm hinein, und sein Mund verzerrte sich vor Angst. Womöglich rief er etwas, doch es war nichts zu hören. In demselben Augenblick verschwand das Gesicht, und beide Männer sahen nur noch seinen Rücken, der vor Schweiß glänzte.
Der Wissenschaftler hustete.
Ein neues Gesicht mit der klaffenden Wunde des Mundes, der Mensch zeigte in den Bildschirm, noch weitere Gesichter, Augen und Münder – sie tauchten auf und verschwanden, wie vom Winde verweht.
»Was ist passiert?« fragte Gal beunruhigt.
»Weiß nicht«, brummte der Bärtige, »irgendwas hat sie erschreckt.«
Er bewegte die Hand. Vor ihnen lag die ganze Belegschaft des Steinbruchs auf den Gesichtern, wie ein aufgegrabenes Nest von Maden lagen hier die Menschenrümpfe der Sklaven und der Aufseher einträchtig nebeneinander im Schoß der Basaltfelsen.
»Nun, diese armen Luder haben ganz sicher keine Zeit zum Nachdenken über den Sinn des Lebens«, knurrte der Wissenschaftler.
»Aber was ist eigentlich geschehen?« fragte Gal.
»Weiß nicht«, sagte der Bärtige, preßte die Lippen zusammen und wandte die Augen ab.
»Glaubst du vielleicht …?«
»Was?«
»… daß die uns sehen können?«
Das Laboratorium erzitterte, das Lachen des Bärtigen erscholl.
»Bei dreißig Dezimalstellen hinter dem Komma? Also das ist dir wirklich gelungen, Gal!« Doch es klang ein wenig hohl.
Er lächelte noch, während sich vor ihnen Bilder des Lebens von dem verwunderlichen, in seinem Kosmos existierenden Teilchen, in den Nebeln des durchsichtigen Würfels irgendwo verloren.
Sie sahen große Scharen, die durch die Wüste schritten, die Leute taumelten wie betrunken in der Glut ihres Muttergestirns, das – wie sich Gal immer wieder und wieder überzeugen mußte – nichts anderes war als der Zentralkern eines winzigen Atoms irgendwo in dem transparenten Würfel. Sie sahen Schlachten, Feiern, sie sahen Städte und Schiffe mit Segelflügeln auf den grünen Wassern der Ozeane …
Die Bilderfolge war nun ununterbrochen. Der Wissenschaftler versuchte, die einzelnen Entwicklungsperioden aufs genaueste zu verfolgen, damit ihm nichts entginge.
Bisher konnte man vieles erklären – den Kampf ums Überleben, die Suche nach neuen Ressourcen, neue Länder, die Unterdrückung der primitiven Gesellschaften durch höher organisierte, das war alles ganz natürlich. Bis auf eine geringe Kleinigkeit.
Etwas gehörte in diese Welt nicht hinein. Etwas, das für diese Gesellschaften, die untereinander um einen kargen Bissen kämpften, eine ungeheure Belastung bedeutete. Majestätische Bauwerke mit goldenen Wänden, hohen, aus Steinspitzen gewebten Turmnadeln, farbigen Kuppeln und Säulenwäldern. Sie wurden durch Unmengen von Sklaven und Arbeitern gebaut, in diesen Gebäuden dienten Tausende von Dienern und Priestern – doch niemand wohnte darin. Aber in Zeiten von Not, großen Epidemien und fremden Invasionen strömten die Massen hinein. Warum? Aber auch wenn die Gefahr wich, blieben die Gebäude nicht verlassen und leer, wieder füllten sie sich mit den Menschenmassen und dem Duft von Räucherwerk. Warum?
Der Wissenschaftler rieb sich die Stirn.
»Ja, ich habe auch darüber nachgedacht. Es ist genauso wie auf anderen Welten. Ich habe mir vorgestellt, daß eine gerade Entwicklung stattfinden würde. Aber immer kompliziert es sich. Sie können einfach die technischen Errungenschaften mit den Vorteilen der primitiven Gesellschaften zusammenfügen. Unaufhörlich drückt sich in dessen Tun eine gewisse Prise von Unsinnigem aus – Aberglauben, Ängsten, ein ewiges Suchen nach etwas, nach …«
»… nach Gott«, schloß Gal ab. »Aber du hast doch selber gesagt, daß ein Kind zum Menschen wird, wenn es zu fragen anfängt, oder?«
Der Wissenschaftler wedelte ungeduldig mit der Hand.
Sie sahen auf den Bildschirm, wo inmitten von prächtigen Bauwerken eine Menschenansammlung mit aufgerissenen Augen böse dreinblickte. Auf einem Haufen von zusammengelegtem Holz stand ein Mann in weißen Gewand an einen Pfahl angebunden, und ein anderer, Schwarzgekleideter, sprach zu ihm. Ein weiterer Mann, das Haupt mit einer Kappe bedeckt, zeigte hinauf zu den Türmen eines großen Bauwerks, doch der Gefesselte wandte das Gesicht ab.