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Am zwanzigsten Tag war er nicht bei ihr. Ashara hatte erfolgreich eine Reihe von Problemstellungen zu Wellenfunktionen durchgearbeitet, indem sie, ihre Fingerspitze als Cursor benutzend, Hologramme in die Luft gemalt hatte.

Danach zeigte ihr das Terminal ein Beispiel für die wechselseitige Verbundenheit aller Ereignisse. Zwei Elementarteilchen wurden isoliert, und sie mußte entscheiden, auf welcher Achse sie eins der Partikel beobachten wollte. Trotz zufälliger Schwankungen wußte das andere Elementarteilchen immer und augenblicklich, daß es den entgegengesetzten Spin haben mußte. Dies war unbekannt gewesen, bevor man die Elementarteilchen hatte voneinander trennen können.

»Wie aber ist so etwas möglich?« fragte das Terminal.

Zenshara schwieg.

»Warum antwortest du nicht?« fragte die unbeteiligte Stimme.

Zenshara zuckte die Achseln. »Es muß so geschehen, weil es so geschieht. Ich kann es nicht erklären. Es ist einfach, wie es ist.«

Auch wenn der alte Mann nicht im Zimmer war, er sah mit Hilfe eines kleinen Bildschirms dennoch zu. Als Zenshara ihre Antwort gab, neigte er den Kopf und sagte zu sich, daß die Dinge kommen würden, wie sie kommen mußten. Es war nicht weise, zu früh zu viel zu erhoffen, denn für einen Lehrer gab es viele Enttäuschungen. Aber dieses Kind schien viel, sehr viel zu verheißen.

Zenshara wurde in den Schlafsaal der Mädchen verlegt. Zu ihrer Überraschung sah sie, daß im Kloster mehr Mädchen als Jungen lernten. Einige wurden zu Technikern ausgebildet, andere waren wahre Novizen, die hofften, auf dem Weg zur Heiligkeit so weit wie nur möglich voranschreiten zu können. Zensharas harter Akzent hob sie von den anderen ab. Die anderen Mädchen kamen meist aus der oberen Mittelschicht und den höchsten Kasten der Gesellschaft. Sie waren gebildet und zeigten so viel Würde, wie junge Mädchen es nur konnten. Zenshara wünschte, sie besäße auch diese Anmut und Eleganz und ihre Ausgelassenheit.

Am ersten Abend sprach kein einziges Mädchen mit ihr, und auch Zenshara brach das Schweigen nicht. Sollten sie, wenn sie wollten, den ersten Schritt tun, um mit ihr Freundschaft zu schließen. Sie war damit zufrieden, daß sie lernen durfte, denn sie fand darin eine tiefere Freude, als sie es sich je hätte träumen lassen. Es war ihr genug, allein in einem bequemen Bett zu schlafen und zu wissen, daß sie während der Nacht nicht belästigt werden würde.

Am nächsten Tag ging sie mit einer Gruppe anderer Mädchen zum Unterricht, aber sie waren alle mit ihren jeweiligen Aufgaben zu sehr beschäftigt, um einander kennenzulernen. Die Regeln des Klosters schrieben vor, daß während der Mittagspause nicht gesprochen werden durfte. Aber am Abend kam ein Mädchen und baute sich neben Zenshara auf, als diese sich auf die Schlafenszeit vorbereitete. Also sollte sie doch etwas Gesellschaft bekommen, dachte Zenshara.

»Hier, Mädchen.« Ein Paar Schuhe wurde Zenshara unter die Nase gehalten. »Mach die sofort sauber.« Am anderen Ende des Schlafsaals war Gekicher zu hören.

Zenshara griff zögernd nach den Schuhen, die ihr hingehalten wurden. Dabei schloß sich ihre Hand um die Hand des Mädchens.

»Lucinda«, sagte ein anderes Mädchen in der Nähe, »kann ich deine Dienerin ausborgen, wenn du sie nicht mehr brauchst? Bei mir ist der Boden so schmutzig.«

Sie hieß also Lucinda. Zenshara packte fester zu und zog das Mädchen zu sich. Schnell wie eine zuschlagende Katze biß sie das Mädchen in die Hand. Sie biß zu, bis ihr die Kaumuskeln wehtaten und Luandas Schreie sogar das Tosen in Zensharas Ohren übertönten. Zenshara spuckte das Blut aus und stieß das Mädchen von sich.

Sie sah sich wachsam um und erwartete einen Angriff. Das zweite Mädchen, das gesprochen hatte, rief über das Terminal an ihrem Bett schon nach den Aufsehern. Die anderen waren mit bleichen Gesichtern zurückgewichen. Niemand schien Lust zu haben, sich mit Zenshara anzulegen.

Lucinda krümmte sich und zitterte vor Schreck. Zwei ihrer Freundinnen kamen, um sie zu trösten, warfen aber die ganze Zeit ängstliche Blicke auf Zenshara.

Die Aufseher, zwei Jungen, stürzten in den Raum. Dann, als sie sahen, daß das Schlimmste schon überstanden war, blieben sie stehen und sahen sich um. Der ältere und größere der beiden übernahm die Regie. Er half Lucinda auf und führte sie aus dem Raum.

Bevor sie gingen, drehte sich der jüngere der beiden noch einmal zu Zenshara um und zwinkerte ihr frech zu.

Als die Lichter gelöscht waren, blieb sie die ganze Nacht wach. Sie saß im Lotussitz auf dem Bett, entspannt und doch wachsam, falls man sie angreifen würde. Niemand kam.

Lucinda ward im Kloster nie wieder gesehen.

Einige Nächte später schlich Zenshara im Dunkeln durch die Flure des Klosters. Ihr war klar, daß sie von den Überwachungsanlagen beobachtet wurde, aber inzwischen wußte sie, wie Lehrer und Administratoren mit den Beziehungen der Novizen umgingen. Sie achteten darauf, sich so wenig wie möglich einzumischen. Das kam ihr seltsam vor, weil ein großer Teil der Ausbildung auf Selbstkontrolle und Disziplin des Geistes zielte. Dennoch war dies die Politik des Klosters.

Sie ging am Schlafsaal der Jungen vorbei zu den kleineren Einzelzimmern, wo die Aufseher schliefen. Sie klopfte an die hinterste Tür. Als sie aufglitt, stand der große Junge, der Lucinda geholfen hatte, blinzelnd im dämmrigen Schein des Nachtlichts vor ihr und fuhr sich mit einer Hand durch das zerzauste Haar. Er setzte zum Sprechen an, doch er hielt sich zurück.

»Kann ich reinkommen?« fragte Zenshara.

»Lieber nicht«, sagte er freundlich. Er verstand sofort: Sie hatte unter den Mädchen keine Freundinnen und würde nie welche haben. Es war ihr bestimmt, einsam zu bleiben, eine Ausgestoßene unter den Mädchen. Sie war zu ihm gekommen, weil sie sich nach Gesellschaft sehnte.

»Es tut mir leid, ich brauche meinen Schlaf. Aber wenn du es bei Zhiang versuchst – das ist hier nebenan –, dann wirst du wahrscheinlich sehen, daß der kleine Racker immer noch wach ist und mit seinem Terminal spielt.« Er lächelte. Es war ein sanftes, freundliches Lächeln.

»Okay. Du bist Mark, nicht wahr?«

»Hast du in die Personalakten gesehen, Zenshara? Gut gemacht. Du bist ein Mädchen nach Zhiangs Geschmack. Aber halte ihn nicht die ganze Nacht wach.«

Er wartete, bis sie an Zhiangs Tür klopfte. Dann schloß er seine Zimmertür und legte sich hin.

Zhiang war, wie sie vermutet hatte, der kleine, freche Junge mit dem widerborstigen kurzen Haar, der Zenshara genau in dem Augenblick zugeblinzelt hatte, in dem sie annahm, daß man sie aus dem Kloster verstoßen würde.

»Mach dir wegen Mark keine Gedanken«, sagte er, als er sie in sein Zimmer ließ. Woher wußte er es? Sie hätte nicht gedacht, daß die Wände hier so hellhörig waren.

»Ich wollte nicht …«

»Oh, er wird dir bestimmt ein guter Freund sein. Aber er steht kurz vor der Heiligkeit. Er ist ein Auserwählter, und da ist es besser, etwas auf Distanz zu bleiben.«

Zenshara wußte nicht und hatte nicht einmal darüber nachgedacht, daß manche Leute im Kloster in diesem Augenblick nahe daran sein könnten, die Heiligkeit zu erreichen.

Es stellte sich heraus, daß Zhiang dreizehn war, auch wenn er kleiner war und jünger aussah als Zenshara. Sie redeten und spielten Kampfspiele am Terminal, bis fast der Morgen dämmerte. Als sie müde wurden, schliefen sie nebeneinander auf einer Matte auf dem Boden ein.

Es dauerte noch ein Jahr, bis Mark bereit war, ein Heiliger zu werden. Weder Zenshara noch Zhiang bekamen ihn in den letzten Wochen vor der Zeremonie zu Gesicht. Am Morgen des großen Tages zogen sie und alle anderen Novizen der Alphagruppe die Festgewänder an und wanderten schweigend in den großen Saal. Sie knieten hinten in der riesigen Steinhalle mit dem Kuppeldach und den schlichten, mächtigen Pfeilern nieder. Dann hockten sie sich auf die Fersen und warteten. Selbst für die, die an diese Stellung gewöhnt waren, wurde diese Haltung während der stundenlangen Zeremonie schmerzhaft.