Sie schliefen noch immer, als Zenshara kurz vor dem Morgengrauen erwachte. Sie verließ leise das Haus und kehrte in die Abgeschiedenheit des Klosters zurück, in die sie gehörte.
Dieses Mal verstand Zenshara die Zeremonie besser. Als sie den großen Saal betrat, fühlte sie sich von den Zuschauern, den Lehrern und Administratoren und Novizen distanziert und doch als Teil von ihnen. Kniend bewunderte sie die anmutigen Linien des Raums, in dem sie sterben sollte. Das Leben, hätte sie fast gesungen, ist das Geben. Sie sah zu den Bogenschützen, die in blauen Gewändern schußbereit knieten und gerade die Pfeile einlegten. Sie wurden aus Lehrern rekrutiert, die der Heiligkeit nahe, aber doch nicht fähig waren, den letzten Schritt zu tun. Ihr eigener Lehrer war unter ihnen. Im Quantenzustand des Saals heute würden die Pfeile schnell wie Gedanken von den Bögen der Schützen fliegen, die gelernt hatten, ohne Absicht zu schießen.
Wahrscheinlich glaubte niemand, daß diese Vorsichtsmaßnahme auch heute notwendig war. Wenn es einen Menschen gab, der fähig war, einen disziplinierten Gedanken zu formulieren und daran festzuhalten, dann war es Zenshara.
Hoch über dem Planeten wartete ein Schiff in der Umlaufbahn, obwohl Zenshara keinen Hinweis gegeben hatte, welche Art von Wunsch sie äußern würde. Die Zivilbehörden, die für die Organisation verantwortlich waren und die Zensharas Ruf und ihre Fähigkeiten kannten, hatten ein größeres Schiff als üblich bereitgestellt und die Kommunikationssysteme mit sendebereiten Daten vollgestopft. Zenshara hoffte, die Leute würden nicht zu enttäuscht sein, wenn ihre Vorbereitungen nichtig gemacht wurden.
Sie verneigte sich vor dem Lehrer, bevor sie den Pokal nahm, den man ihr brachte. Es war eine unnötige Geste der Demut, zumal ihr Lehrer als einer der zeremoniellen Bogenschützen nicht reagieren durfte. Dennoch war er der einzige Mensch hier, zu dem Zenshara echte Zuneigung empfand und mit dem sie sich wirklich verbunden fühlte. Die anderen liebte sie, aber es war die gleiche Liebe, die sie für die ganze Menschheit empfand.
Es war ein himmlischer Trank, eine köstliche Mischung aus verschiedenen Geschmacksrichtungen, der auf ihrer Zunge förmlich explodierte. Der Geschmack des Todes war süß. Sie badete in Wohlbehagen und spürte, wie ihr Körper sich entspannte und ihr Geist sich schärfte. Sie schien aus ihrem Körper zu gleiten und mit dem Universum zu verschmelzen, sie spürte die Energien unter sich, als sie sich darauf vorbereitete, die Maschinen des Klosters zu führen und ihre Kraft in die Trance mitzunehmen.
»Ich wünsche«, sprach sie, »Wohlstand und Gleichberechtigung für alle.«
Ein leises Keuchen entfuhr den Kehlen der Zuschauer. Viele kippten auf den Hacken leicht zurück. Ein metaphysischer Wunsch der höchsten Ordnung! Niemand konnte sich seit Menschengedenken an einen so großartigen Wunsch erinnern. Wer konnte sagen, welche Wohltaten ein solcher Wunsch ihrer Welt und vielleicht sogar den Nachbarwelten bringen mochte?
Von den Worten zum Gedanken. Zenshara hielt das Bild in ihrem Bewußtsein fest und begann, den Gedanken zu erarbeiten. Ihr Lehrer war unter den beglückten Zuschauern der einzige, der die Gefahr spürte.
Mit geschlossenen Augen und friedlich in sich ruhend ließ der Lehrer den Pfeil fliegen. In gewisser Weise war dessen Geschwindigkeit unendlich. Schnell wie eine Intuition schoß der Pfeil durch den Saal und schlug durch Zensharas Körper. Blut spritzte aus der Austrittswunde und strömte ihren Rücken hinab.
Zu spät. Das Konzept lag bereits zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit in der Zeit. Wellenfunktionen brachen zusammen. Weiter, als sich irgend jemand vorstellen konnte, griff Zensharas mächtiger Gedanke zu allen von Menschen bewohnten Welten hinaus und erreichte alle Klöster in der Galaxis.
Es gab keine Flammen, keine Explosionen. Die empfindsamsten hatten gerade noch Zeit zu bemerken, daß ihr Universum in eine neue Ordnung überging. Die Molekularstrukturen der Gebäude und der Bewohner lösten sich auf. Wie Gespenster verblaßten die Klöster sanft zu freien Atomen, die sich mit den Welten mischten, auf denen die Klöster gestanden hatten. Sie wurden zu einem Teil von ihnen, befreit von unterdrückenden, hemmenden Strukturen. Zenshara und die Klöster starben zusammen in dem Augenblick, in dem ihre Liebe für alle Wesen am stärksten war.
Originaltiteclass="underline" ›SANCTIFICATION‹ • Copyright © 1993 by John Meany • Erstmals erschienen in ›Interzone‹, März 1993 • Mit freundlicher Genehmigung des Autors • Copyright © 1996 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München • Aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Langowski • Illustriert von Jürgen Höreth
Ivan Kubíček • Tschechien
BILDER GRATIS
Einmal beurteilte ein bärtiger Maler seine Lage und zog daraus eine weise Schlußfolgerung: keine Bilder zu verkaufen (wie das bisher sowieso der Fall gewesen war) oder diese zu verschenken kommt eigentlich auf ein und dasselbe heraus, mit anderen Worten: ist völlig gleich. In beiden Fällen hatte er zwar keine Chance, Geld zu bekommen, aber doch eine Hoffnung, daß seine Bilder unter diejenigen kamen, für die er sie gemalt hatte. Er malte in der Tat wunderschöne und gleichzeitig geheimnisvolle Bilder. Er wußte, sie wurden lebendig, wenn vor ihnen jemand wenigstens auf kurze Zeit verweilte, damit sie ihm auf der Netzhaut haften blieben, ähnlich wie die Farbe des Himmels es tut – wenn wir nach oben schauen.
Und so nannte er seine neue Ausstellung ›Bilder gratis‹.
Doch die Leute glaubten dem Aushängeschild vor dem Ausstellungssaal ebensowenig, wie es ihnen die Vorstellung erlaubte, daß sie etwas Kostbares umsonst erlangen könnten. Darüber hinaus waren sie auch – im Unterschied zu dem Maler – vollkommen übersättigt. »Das wird sicher irgendein Tinnef sein«, sagte der Kleinhändler von gegenüber. Andere beschleunigten vor dem Ausstellungssaal ihre Schritte, weil sie dachten, da sei ein Haken dabei. Andere, und zwar die Neugierigen, sahen sich die Ausstellung verstohlen mit einem Fernrohr an, nichtsdestoweniger erklärten sie danach fachmännisch, daß es verboten sein sollte, solche Bilder nicht nur zu verkaufen, sondern auch zu verschenken. Andere dachten zwar gar nichts, dennoch: es gefiel auch ihnen nicht.
Nur einmal konnte der bärtige Maler feststellen, daß überhaupt jemand vor dem Aushängeschild ›Bilder gratis‹ stehengeblieben war: ein frischvermähltes Paar bei der Rückkehr aus der Kirche. Der Bräutigam riß rechtzeitig seine schöne Frau an der Hand, als sie hineingehen wollte: »Wage das nur!« sagte er drohend. »Das kennen wir ja. Ein Bild gratis, und du kriechst ihm umsonst ins Bett. Kommt nicht in Frage!« Möglicherweise, dachte der bärtige Maler, hätte dieser Mann – nach entsprechender Bezahlung – wohl nichts dagegen.
Nach all diesen Erfahrungen hängte also der bärtige Maler alle Bilder von den Wänden ab, brachte sie auf den Gehsteig und stützte sie an die Hauswand. Wirklich: der Sonnenschein sah die Bilder an und machte sie schöner. Doch die Leute gingen lieber auf die andere Seite und wandten sich von der Schönheit ab, als wäre sie von einem Ausschlag befallen. Er wollte mit den Menschen wenigstens sprechen, er wollte ihnen über die Bilder etwas erzählen, soweit er das konnte, aber er hatte keine Worte finden können, obwohl ihm seine Hände und Augen wehtaten durch das, was er nicht aussprechen konnte – ihm war der Mund gänzlich taub. Also kroch er auf die Bockleiter und malte auf das Aushängeschild ›Bilder gratis‹ nur ein Wort: ›TATSÄCHLICH!‹
Erst jetzt faßte eine Frau auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig Mut und schnaufte schnell, um nicht überholt zu werden, über die Straße. Sie sah sich nicht lange um, schnappte das größte Bild, gerade dasjenige, das der Maler am wenigstens schätzte – die ›Idylle in der vierten Dimension‹ und rannte weg, ab und zu ängstlich nach hinten schielend.