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Adam dachte eine Weile darüber nach. Die Brust seines Vaters fühlte sich an seiner Wange warm und tröstend an, aber irgendwo spürte er noch einen Anflug von Angst.

»Es gibt doch keine Frauen mehr, oder?« fragte er.

»Nein, hier bei uns nicht«, sagte Jean traurig. »Weit entfernt vielleicht, im Dschungel.«

»Kommen sie irgendwann zurück?«

»Ich glaube nicht.« Jean küßte ihn. »Wir brauchen sie nicht mehr«, sagte er.

Ein paar Jahre später, während des Biologieunterrichts, erkannte Adam seinen kindlichen Irrtum. Zuerst entdeckte er, daß es möglich war, ein Ei mit einem X-Spermium zu befruchten, um eine Gebärmutter und Eierstöcke zu erhalten. Ein paar Tage später lernte er, daß Uterus und Eierstöcke mit embryonischen Armen und Beinen und Köpfen zusammenhingen, die entfernt werden mußten.

»Weil es sonst ein Mensch würde«, sagte er zum Lehrer. »Wenn wir ihn lassen würden.«

»Nein«, sagte sein Lehrer. »Es würde eine Frau.«

Adam hatte einen Augenblick Angst. Dann wurde er neugierig. Und dann war er erleichtert.

»Meinen Sie, daß es nur Frauen geben kann, wenn wir sie machen?« Er mußte lachen. In seinen Alpträumen hatte er sich riesige Wesen vorgestellt, die sich eines Tages aus dem Dschungel erheben und Kinder ausstreuen würden, während sie über das Land marschierten. Er sah den Lehrschirm an. Das Abbild der Realität. Da war die Frau. Ein kleiner, etwas lächerlicher Haufen Zellen. Er mußte lachen, bis ihm die Tränen kamen.

Michael und Jean-Claude trennten sich, als Adam zehn Jahre alt war. Zwischen dem Streit über das Foto der Frau und ihrer Trennung waren mehrere Monate verstrichen, und inzwischen konnte Adam die Verbindung nicht mehr herstellen. Er wußte nur, daß seine Eltern sich ständig stritten. Es gab häßliche kleine Streitigkeiten, die die beiden in haßerfüllte Zerrbilder ihrer selbst verwandelten. Die Auseinandersetzungen entstanden aus dem Nichts, brachen aus, schliefen ein, wurden aber nie beigelegt. Manchmal, wenn sie wußten, daß er lauschte, stritten sie sich wortlos.

Beide wetteiferten ständig um seine Aufmerksamkeit. Um seine Billigung und seine Unterstützung. Manchmal, wenn sie sahen, wie verwirrt er war, entschuldigten sie sich auch bei ihm. Es spielt doch keine Rolle, sagten sie dann. Komm, setz dich zu wem du willst. Ich erzähle dir eine Geschichte. Willst du etwas spielen? Komm zu mir, zu mir. Dann sahen sie mit begierigen, sorgenvollen Augen zu, wie er sich umdrehte und in sein Zimmer ging. Er verbrachte viel Zeit in seinem Zimmer mit seinem Lehrer. Aber er konnte sich nicht richtig konzentrieren, und seine Schularbeit litt.

Nach der Trennung wurde es leichter. Michael bekam das alleinige Sorgerecht zugesprochen und konnte im Haus bleiben. Jean-Claude legte gegen die Entscheidung keine Beschwerde ein, und als Gegenleistung erlaubte Michael, daß Jean ihr Kind ab und zu sehen durfte. Der Grund war, erklärte Opa Gilbert, daß Jean ein Perverser war. Aus irgendeinem Grund, vielleicht wegen Opa Gilberts Tonfall, als er dieses Wort aussprach, fragte Adam nicht bei Jean-Claude nach, was es bedeutete. Ein Perverser, dachte Adam sich, war eben jemand, den man nicht mehr leiden konnte.

Zuerst sah er Jean-Papa noch ziemlich häufig. Am Wochenende gingen sie oft in den Park oder zum Schwimmen, oder sie setzten sich irgendwo in ein Café und erzählten sich Geschichten. Im Sommer verbrachten sie sogar eine ganze Woche zusammen. Michael wollte danach immer ganz genau wissen, was auf diesen Treffen geschehen war, was sie gesprochen und getan hatten. Laß dich nicht von ihm einwickeln, sagte er. Aber wie Opa Gilbert erklärte er nie, was er damit meinte.

Als Adam dreizehn war, brachte er seinen ersten Geliebten mit nach Hause. Er war in Adams Sozialisationsgruppe. Der Junge hieß Craig. Er hatte rotes Haar und volle, weiche Lippen, und als Adam sein Plastikbaby kopfüber ins Bad fallen ließ, rettete Craig die kreischende, glitschige Puppe und zeigte Adam, wie er sie halten mußte, um sie zu beruhigen. Er hatte sanfte und dennoch feste Hände. Seine Augen waren braun. Michael lächelte erfreut, wenn sie unter dem Tisch Händchen hielten. Er schlug vor, Craig könne über Nacht bleiben. Als er glaubte, daß sie schliefen, ging er leise ins Zimmer und deckte ihre verschlungenen Körper mit den abgestreiften Laken zu. Adam hörte sein Seufzen und fragte sich noch lange danach, was er getan hatte, eine so tiefe Befriedigung auszulösen.

Im Sommer nach seinem sechzehnten Geburtstag nahm Jean-Claude Adam ins Gebirge mit. Er hatte eine Berghütte gemietet, und die ersten paar Tage verbrachten sie mit Wandern, Angeln und Reden, um sich nach der Trennung wieder an die körperliche Nähe des anderen zu gewöhnen. Jean hatte zwei Jahre in Parà in Brasilien verbracht, und seit seiner Rückkehr vor ein paar Wochen hatten sie sich erst einmal getroffen. Natürlich hatte er angerufen, es hatte Geschenke, Geburtstagsgrüße und fröhliche kleine ›Bilder‹ aus Parà gegeben, auf denen das farbenfrohe, zarte Land zu sehen war, durch das Jean gereist war. Aber es hatte etwas gefehlt. Etwas, das nicht ausgesprochen wurde. Die ›Bilder‹ und die Mitteilungen waren zu sorgfältig formuliert, zu flach in ihren Beschreibungen der Anblicke und Klänge des Landes. Adam hatte sich eine Zeitlang mit dem erschreckenden und aufregenden Gedanken vergnügt, daß Jean ein Spion sein könnte. Oder er lag wegen einer schlimmen Krankheit im Sterben. Nun, da er sah, daß sein Vater so schlank und beweglich war wie eine Elfe, dachte er nicht mehr daran.

Am vierten Abend ihres Urlaubs erklärte Jean, daß er Besuch erwartete. Er schien nervös, und Adam fragte sich, ob er irgendeinen Grund zur Sorge hätte. Seine Beunruhigung war ihm wohl anzusehen, denn Jean erklärte ihm hastig: »Schon gut. Kein Problem. Aber wenn du nicht bleiben willst … dann geh nur …« Er zuckte die Achseln. »Du bist alt genug, um zu wissen, was du tust«, sagte er. »Alt genug, um die Wahrheit zu erfahren.«

Den Rest des Nachmittags hatte Jean mit den Vorbereitungen für seine Gäste zu tun. Der Geruch von frisch gebackenem Kuchen und Brot erfüllte die Hütte, aber Adam durfte die kleine Küche nicht betreten, um zu helfen. Gegen Abend räumte Jean das Zimmer um. Er schob Möbel in die Ecken und Winkel, bis in der Mitte des Raumes eine freie Fläche entstand. Später, als es dunkelte, wurde dieser Raum von einem einsamen, sanften Strahler erhellt, so daß der Rest des Raumes im Dunkeln blieb. Adam setzte sich in eine Ecke. Er mußte lange warten.

Es war schon Nacht, als der erste Gast kam. Es war ein großer Mann mit langem dunklen Haar, das er oben auf dem Kopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Seine Augen waren blau, aber sonst konnte Adam nicht viel sehen. Der Mann trug eine Maske. Sie war grob aus Holz geschnitzt, abgeschmirgelt und lackiert. Es gab Augenlöcher, und anstelle des Mundes klaffte ein grinsendes Loch. Der Rand des Lochs war hellrot lackiert. Auch die anderen Gäste, die nach und nach eintrafen, trugen Masken. Alle Masken sahen gleich aus.

Es waren insgesamt sechs Gäste, Männer aller Größen und Gestalt. Jean stellte sie Adam als ›Freund‹ und Adam ihnen als ›mein Sohn‹ vor. Als der letzte gekommen war, öffnete er eine Flasche Rotwein und füllte sieben Gläser.

»Wir treffen uns im Blute«, sagte er.

Die Gäste nahmen ihre Gläser, tranken und wiederholten den Spruch: »Im Blute.«

Adam sah zur Tür. Er hatte schon einmal etwas von Orgien gehört. Er hatte von Männern gehört, die Schmerzen liebten, und von anderen, die Freude daran fanden, Schmerzen zu bereiten. Er hatte von dunklen Ritualen und Perversionen des Geistes gehört, welche die Geburtszentren noch nicht ganz hatten ausrotten können. Er hörte Opa Gilbert im Kopf immer wieder das Wort ›Perverser‹ sagen. Er blickte zu Jean und wich weiter in die Dunkelheit zurück. Er stieß mit den Kniekehlen an eine Stuhlkante und setzte sich.

Die Gäste hatten ausgetrunken und zogen sich aus. Einige warfen ihre Kleider einfach hinter sich, andere falteten sie zu ordentlichen Stapeln und legten sie neben sich auf einen Stuhl oder einen Tisch. Als sie nackt waren, knieten sie sich im Kreis nebeneinander. Adam bemerkte, daß Jean inzwischen aus der Küche ein weißes Tischtuch und eine Plastikflasche mit einer roten Sauce geholt hatte. Jean faltete das Tuch auf und breitete es flach aus wie für ein Picknick. Dann nahm er die Saucenflasche und begann mit roten Tropfen eine menschliche Gestalt zu zeichnen. Kopf, Arme, Beine. Er fügte zwei Kreise hinzu (die Brüste eines werdenden Vaters?) und setzte zwischen die Beine einen weiteren, kleineren Kreis. Dort fehlte etwas. Eine Kastration. Adam schloß die Augen. Er dachte: Nein.