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Inzwischen hatte sich rings um ihn ein Käfig aus gelenkigen Gliedern gebildet, der ihn vor dem Gedränge schützte. Er starrte empor, erkannte die schnell verheilende Wunde eines frischen Sprossens. Er rief – doch seine Sprechmembrane war noch naß, und die Laute, die er hervorbrachte, waren nicht zu verstehen. Er versuchte es noch einmal, spürte, wie die Membrane gehorchte. »Du bist mein Vater«, rief er.

»Ja.« Von oben näherte sich ein riesiges Gesicht. Er langte hinauf, um das strenge Antlitz zu streicheln. Das Fleisch verhärtete sich bereits. Süße Traurigkeit übermannte ihn. War sein Vater schon so alt, daß das Anwachsen bevorstand?

»Hör zu. Sieh mich an. Du heißt Bildhauer 472. Ich heiße Bildhauer 471. Du darfst deinen Namen nicht vergessen.«

Bildhauer 472. »Ich danke dir«, sagte Bildhauer 472 feierlich. »Aber …« Aber was bedeutete Bildhauer? Er forschte in seinem Gedächtnis, er war nicht ohne Erinnerung geboren. Glieder. Vater. Leute. Anwachsen. Die Sonne; die Hügel. Er fand keinen Hinweis auf Bildhauer. Panik beschlich ihn; seine Glieder schlugen hin und her. War etwas nicht in Ordnung mit ihm?

»Beruhige dich«, sagte sein Vater gleichmütig. »Das ist ein alter, überlieferter Name, der nichts weiter bedeutet.«

Bildhauer 472. Das war ein guter Name; ein edler Name. Vor ihm lag das Leben: der kurze dreitägige Morgen, der ihm Bewußtsein und Beweglichkeit schenkte, da er reden, kämpfen, lieben und Knospen treiben würde; und danach der lange, träge, bequeme Nachmittag des Anwachsens. »Ich bin so glücklich, daß ich lebe, Vater. Alles ist wunderbar. Ich …«

»Hör mir zu.«

Er hielt verwirrt inne; der Tonfall war schroff, eindringlich.

Irgend etwas war nicht in Ordnung.

»Das Leben ist jetzt – schwierig. Anders.«

Bildhauer 472 schlang die Glieder um den Rumpf. »Wegen mir?«

»Nein, mein Junge. Die Welt macht Probleme.«

»Aber die Hügel – das Anwachsen …«

»Wir mußten die Hügel verlassen.« Die Stimme von 471 verriet Scham; erneut nahm 472 das Gedränge jenseits des Käfigs wahr, den die starken Glieder seines Vaters bildeten. »Die Hügel sind beschädigt. Es gibt dort – Sonnenwesen – fremde Lebensformen, die glühen und glänzen. Wir trauen uns nicht mehr zurück. Wir mußten fliehen.«

»Aber wie soll ich dann anwachsen? Wo soll ich hin?«

»Es ist bedauerlich«, sagte sein Vater. »Wir müssen in die Ferne ziehen. Vielleicht finden wir neue Hügel, auf denen wir anwachsen können. Vielleicht noch rechtzeitig für dich.«

»Und was wird aus dir?«

»Mach dir um mich keine Sorge.« 471 knuffte und schubste seinen Sohn. »Komm. Kannst du laufen?«

Bildhauer wickelte sich aus seinen Gliedern, setzte sie an den Boden und stand versuchsweise auf. Ihm war ein bißchen schwindlig, und ein paar Gelenke taten weh. »Ja. Ja, mir geht es prima. Aber ich muß wissen …«

»Schweig jetzt. Lauf zu, Junge!«

Sein Vater rollte von ihm fort und humpelte den Fliehenden hinterher.

Ohne den Gliederkäfig von 471 war Bildhauer schutzlos seiner Umgebung ausgeliefert. Das Land war kahl und flach; der Himmel schwarz und leer. Er verscheuchte die unechten Erinnerungen an schattige Hügel, an Gelächter und Liebe.

Sein Volk wogte zum Horizont, ließ ihn im Stich.

»Warte! Vater, warte!«

Taumelnd lernte Bildhauer, sich mit seinen acht Gliedern über den unebenen Boden zu klauben, und schwankte seinem Vater hinterher.

Das Shuttle parkte im Mondorbit. Michael Poole dockte an, und Bill Dzik, Leiter des Projekts Baked Alaska, holte ihn ab. Dzik war ein beleibter, atemloser Mann mit einem Gesicht, dem eine Anti-Seneszenz-Behandlung zu unnatürlicher Glätte verholfen hatte; er hatte eine kleine Aktenmappe dabei. Seine plumpe und warme Hand verschlang die seines Gegenübers. »Mike. Schön, daß Sie kommen.«

»Ich habe nicht damit gerechnet, Sie leibhaftig anzutreffen, Bill.«

Dzik bemühte ein Lächeln; sein Mund ging unter in der Teigmasse des Gesichts. »Tja, wir haben ein Problem. Leider.«

Poole unterdrückte einen Seufzer; sein Magen schien sich zusammenzuziehen.

Er folgte Dzik ins Shuttle. Die Einmannbesatzung in Gestalt der kurzgeschorenen Pilotin begrüßte den Neuankömmling mit einem munteren Kopfnicken. Durch die gewölbten Fenster sah Poole Limas altehrwürdige Physiognomie und den himmelblauen Tetraeder, das Wurmloch-Portal nach Baked Alaska. Poole und Dzik schnallten sich in benachbarte Sitze, und wie von Geisterhand beschleunigte das Shuttle. Poole verfolgte die Annäherung an das hundert Meter weite Portal; Flächen wie aus vergoldetem Silber, ungreifbar, vage, überstrahlten das blaue Rahmenwerk.

Probleme, immer Probleme. Wärst du doch bei deiner Physik geblieben, Mike.

Dzik nahm die Mappe auf den Schoß und machte Anstalten, sie mit seinen Wurstfingern zu öffnen. Er zauderte. »Wie kommt die Cauchy voran?«

Du weißt, wie die Cauchy vorankommt; du bekommst meine Kurzberichte von der Jupiterwerft, du bekommst alle Berichte. Poole wollte Zeit gewinnen, war sich im unklaren über Dziks Laune. »Prima. Miriam Berg macht ihre Arbeit gut da draußen. Der GUT-Antrieb ist uns jetzt auf den Leib geschneidert, und die Produktion des exotischen Materials für die Portale ist angelaufen. Wie Sie wissen, zapfen wir als Energiequelle den Magnettunnel von Io an und …«

Dzik nickte immerzu, sein Blick klebte an Pooles Gesicht; doch er hörte nicht zu …

»Raus damit, Bill«, sagte Poole. »Ich werd’s überleben. Was haben Sie auf dem Herzen?«

Dzik lächelte. »Tja.«

Die kobaltblauen Streben des Portals glitten vorüber und verdeckten jedesmal den Mond.

Dzik öffnete die Mappe und zog eine Reihe von Fotografien heraus. »Sehen Sie sich das an.« Es handelte sich um grobkörnige Aufnahmen der Oberfläche von Baked Alaska. Der Himmel war leer bis auf ein paar Sprenkel; jeder von den fernen Sternen hätte die Sonne sein können. Das Land war kahl, nichts als rissiges Eis – bis auf ein paar merkwürdige, wurzelartige Strukturen, die an Baumstümpfe erinnerten.

»Leider ist die Qualität nicht besonders«, sagte Dzik. »Die Fotos mußten aus großer Entfernung gemacht werden. Aus sehr großer Entfernung.«

Poole stöberte in den Fotos. »Was soll das, Bill?«

Dzik fuhr sich mit den plumpen Fingern durchs kurze, fettige Haar. »Sehen Sie, Mike, ich bin jetzt fast so lange beim Wurmloch-Projekt wie Sie. Und wir hatten manche Nuß zu knacken. Aber das waren technische Probleme oder politische oder …« Dzik zählte an den Fingern ab. »Das Grundproblem der Wurmloch-Instabilität konnten wir durch intelligente Rückkopplungssysteme lösen. Wir können inzwischen exotische Materie am Fließband produzieren, genug, um die Mäuler der Wurmlöcher eine Meile weit aufzusperren. Wir haben die Genehmigung der regionalen und überregionalen Behörden, um das ganze Sonnensystem mit Wurmloch-Adern zu vernetzen. Und dann die Finanzierung; diese endlosen Kreuzzüge …«

Kreuzzüge, die noch nicht ausgestanden waren, sinnierte Poole. Man mußte Dzik immer wieder mit der Nase darauf stoßen, daß der kommerzielle Erfolg des Baked-Alaska-Unternehmens nur die finanzielle Basis für das eigentliche Ziel war – den Flug der Cauchy in den interstellaren Raum.