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Nur in der westlichen Welt konnte die Geschichte über einen Fall von Selbstjustiz wichtiger sein als die Möglichkeit, daß Amerika abermals in einen Krieg in Asien verwickelt wurde.

Die erste Tätowierung tauchte eines Morgens im Spätsommer auf. Er war am Abend zuvor ausgegangen und hatte in einer seiner Stammkneipen gefeiert. Er hatte in den letzten Jahren ziemlich viel ›gefeiert‹. Der erste und wichtigste Grund war seine wohlbehaltene Rückkehr aus Vietnam gewesen. Dann Phils Tod, dann seine Scheidung … und dann jede gute oder schlechte Nachricht, ob groß, ob klein. Er war gut im Feiern.

Das Symbol, denn es handelte sich eher um ein Symbol als um ein Bild oder ein Wort, befand sich nicht an einer Stelle, die man normalerweise mit Tätowierungen schmückte. Jedenfalls war die Stelle für einen Amerikaner recht ungewöhnlich. Das Zeichen war knapp unterhalb seiner linken Achselhöhle, und soweit man es sagen konnte, ähnelte es einem Schriftzeichen aus dem Sanskrit oder vielleicht dem Chinesischen. Japanisch? Nein, es war japanischen Zeichen nicht einmal entfernt ähnlich. Es war einfach ein Symbol, ein Kringel, der in einer dünnen, gezackten Linie auslief, die sich zurückbog und als kleines Labyrinth in einem Knäuel endete. Als er das Zeichen im Spiegel untersuchte, staunte er über die feinen Details und die Kunstfertigkeit. Die Tätowierung war wie ein Miniaturuniversum: wie die kleine Welt einer aus der Nähe betrachteten Blume oder eines Blattes. Die Innenansicht eines mikroskopischen Organismus.

»Was, zum … wie bin ich denn da dran gekommen?« sagte er, während er sich in seinem billig möblierten Apartment in der Hoffnung umsah, einen Hinweis auf die Erlebnisse des vergangenen Abends zu finden.

Wo war er gestern abend noch gleich gewesen? Er erinnerte sich an Stacey’s Bar, dann an den Nachtclub – in welcher Straße war der noch gleich? Aber ein Tätowierladen? Die hatte es früher mal in Chinatown gegeben, doch er hatte irgendwo gelesen, daß sie alle geschlossen worden waren.

Tätowierungen wurde man nicht so ohne weiteres wieder los. Schönheitschirurgie war ein teurer Spaß. Ein Glück nur, daß es in seinem Fall nichts Anstößiges war wie das Abbild einer Playboy-Schönheit. Ein Glück, ein Glück, ein Glück … er knallte über dem Spiegel die Faust an die Wand. Nebenan beschwerte sich jemand mit einem empörten Ruf, und er brüllte zurück: »Fahr zur Hölle!« Dann hielt er die schmerzenden Knöchel unter das kalte Wasser.

Der Verkehr Brooklyns erreichte draußen gerade seinen morgendlichen Höhepunkt. Er zog sich die Hose über die Shorts. Er hätte schon vor einer Stunde an seinem Arbeitsplatz eintreffen sollen. Nicht mehr lange, und er würde seinen Job verlieren.

Drei Tage später, nach seiner nächsten Sauftour, tauchte die zweite Tätowierung auf. Dieses Mal am Ellbogen. Er rief seine Exfrau an und redete eine Weile mit ihr, verriet ihr aber nichts. Der Klang ihrer Stimme schenkte ihm etwas Kraft.

Dann rief er seinen Sohn an und sprach mit ihm über Football und Urlaubspläne. Jamie sprühte vor Leben, sagte seinem Vater, daß er ihn vermißte und daß sie sich bald zu dritt treffen sollten, sobald er mit dem College fertig wäre. Jamie war ein Träumer, er spielte den Heiratsvermittler, weil er hoffte, seine Eltern würden wieder zueinander finden und vielleicht sogar noch einmal heiraten. Als er den Hörer auflegte, ging es ihm besser. Er schwor sich, eine Woche nicht zu trinken.

Vierundzwanzig Stunden später war das dritte Symbol da.

»Ich bin ein Schlafwandler«, sagte er zu sich selbst. »Ich bin in einer Art Trance. Irgendein Schweinehund hat’s auf mich abgesehen.« Er sah sich in der Wohnung um, als könnte jemand im Schrank oder unter dem Bett stecken. Er besah sich seine Augen im Spiegel und entdeckte Angst. Er berührte seine fahlen Wangen und sah seine Hand zittern. »Irgendein Schweinehund hat’s auf mich abgesehen.« Wenn die Tätowierungen keine farbigen Symbole, sondern Entstellungen gewesen wären, die verrieten, daß eine tödliche Krankheit sich in sein Blut eingeschlichen hatte, hätte er keine größere Angst haben können.

Er fürchtete sich, wie er sich noch nie im Leben gefürchtet hatte, nicht einmal in Vietnam. Nein, dachte er, es war die gleiche Angst. Er erkannte die Angst, wie andere Menschen den Geruch oder den Geschmack eines ungewöhnlichen Gewürzes erkennen. Es gab verschiedene Arten des Entsetzens, und dieses hier war eindeutig die Angst vor dem Tod im Dschungel.

Der Grund war, daß die Tätowierungen etwas ausgesprochen Asiatisches hatten. Sie sahen irgendwie fernöstlich aus. Plötzlich schienen ihm die Nächte noch trostloser, als sie es ohnehin schon waren. Irgendwo da draußen im Dunkel wollte ihm jemand ans Leder.

Er war wieder in Vietnam, er sah den Dschungel wie eine Mauer vor sich aufragen. Dort drinnen mußte man unter Riesenbäumen laufen und über Wurzeln steigen wie über Hügel. Er war ein unbedeutender Sterblicher an einem erbarmungslosen Ort. Sein Bewußtsein war seinem Körper weit voraus oder schleppte sich hinterdrein. Wie damals zuckte er zusammen, sobald er irgendwo einen Schatten sah, und er spülte die Angst mit Schnaps hinunter. Der Dschungel war ihm bis hierher gefolgt, bis in die Straßen von New York. Die kleinen Männer, die man niemals sah, versteckten sich in den Gassen. Er hatte Angst zu trinken und Angst, nicht zu trinken. Seine Angst hielt ihn abends lange wach. Er mußte in Bars gehen und sich etwas von dem Zeug besorgen, das seine Angst auslöschte und sie gleichzeitig verstärkte. Er saß in einer bösen Falle und wurde langsam verrückt wie damals.

»Verdammt, was ist hier los?« rief er, als er im Neonregen vor einer Bar auf dem Gehweg stand. »Kann mir mal jemand erklären, was hier los ist.« Aber die Passanten, soweit sie ihn überhaupt beachteten, waren nicht bereit, mit Verrückten, Veteranen oder Betrunkenen über philosophische Fragen zu diskutieren. Und schon gar nicht mit einem Mann, auf den alle drei Attribute zu passen schienen.

Ich verließ das Roosevelt und fuhr mit einem Taxi zum Central Park. Dort wanderte ich herum, blickte hin und wieder auf die in der Times abgedruckte Karte und versuchte, die Stelle zu finden an der der Mord geschehen war. Als ich dachte, ich hätte sie gefunden, machte ich ein paar Fotos. Ich weiß nicht genau warum, und es war sowieso nichts zu sehen. Ich verknipse bei neuen Filmen gern aufs Geratewohl ein paar Aufnahmen, einfach so, um in Gang zu kommen. In Vietnam hatte ich beim Aufwachen auch immer gleich als erstes zur Kamera gegriffen und ein Foto vom anderen Ende meines Körpers gemacht: Zehen, Füße, Knie. Einfach so, um in Gang zu kommen.

Ich glaube, ich war damals ein ziemlich verrückter Bursche. Ich war mit siebzehn von zu Hause ausgerissen und mit einer Pentax im Rucksack durch Europa gestrolcht. Ich wollte nach Asien. Ich war damals schon entschlossen, Kriegsfotograf zu werden. Den Anfang wollte ich 1967 mit dem arabisch-israelischen Krieg machen. Ich brauchte eine Woche, um hinzukommen. Der Krieg dauerte nur sechs Tage. Ich überwand meine Enttäuschung und fuhr weiter nach Süden bis Aden, wo es Terroranschläge gegen die Briten gab, die sich aus der Kolonie zurückziehen wollten. Die Behörden wollten mich nicht reinlassen. Sie wollten mich zu meinen Eltern nach Hause schicken. Ich zog weiter nach Osten in Richtung Vietnam, blieb aber in Indien hängen und vergaß die Zeit in einer Opiumwolke und in den Klängen einer Sitar meine Objektivität. Schließlich kam ich rechtzeitig zur Schlacht von Khe Sanh in Vietnam an.

Meine ersten Fotos waren schlecht, und niemand wollte sie haben. (Erst später, nach dem ersten Buch, waren sie gefragt.) Aber ich war viel zu besessen, um aufzuhören. Ich fotografierte weiter, wurde besser und lernte etwas von amerikanischen Kollegen. Als Mi Lai Schlagzeilen machte, war ich gut genug, und man wollte meine Fotos kaufen.