»Wie sollte etwas Derartiges so lange Zeit und so nahe an der Alten Erde geheim geblieben sein?«, fragte Rione. »Die Syndiks haben ihr Wissen über die Enigmas hundert Jahre lang für sich behalten. Aber das lag daran, dass sich der Kontakt mit den Enigmas in der von uns abgewandten Region abspielte und die Kommunikation drastisch eingeschränkt war.«
»Außerdem«, fügte Charban hinzu, »hatten wir aufgehört, nach anderen Spezies zu suchen, nachdem die Erforschung von so vielen Systemen und Welten ergebnislos geblieben war. In den frühen Tagen, als sich die Menschheit auszubreiten begann, da rechneten wir fast täglich damit, auf nichtmenschliches Leben zu stoßen.«
Gearys Blick war weiter auf die immer detaillierter werdende Darstellung der unbekannten Kriegsschiffe gerichtet, da die Sensoren der Dauntless immer neue Daten erfassten und auswerteten. »Sie sehen menschlich aus. Die Schiffe meine ich. Ich kann an diesen Kriegsschiffen nichts entdecken, was sie so grundlegend anders aussehen lässt als die Schiffe, die von den Enigmas, den Kiks oder den Tänzern konstruiert wurden.«
»Und was soll ich jetzt machen?«, fragte Desjani ihn.
»Nehmen Sie Kurs auf die Alte Erde«, befahl Geary ihr. »Senden Sie die standardmäßige Begrüßung an die Behörden des Sol-Sternensystems. Wir werden unsere Mission wie geplant fortsetzen, bis jemand sich dagegen ausspricht.«
War einer der Senatoren im Begriff gewesen, seine Meinung zur weiteren Vorgehensweise kundzutun? Falls ja, war derjenige zumindest bis jetzt nicht vorgetreten. Das mochte allerdings auch daran liegen, dass niemand eine Ahnung hatte, wie sie weiter verfahren sollten.
»Die Schiffe mögen ja von Menschen gebaut worden sein«, merkte Desjani an, nachdem sie den Kurs der Dauntless leicht korrigiert hatte, »aber sehen Sie sich nur den Krempel an, mit dem man die Schiffe verziert hat. Die wirken eher so, als wären sie einem Weltraum-Liebesroman entsprungen. Mir fällt kein passender Begriff dafür ein.«
»Flitter und Firlefanz, Captain«, antwortete Lieutenant Castries. »Sie haben recht. Diese Schiffe sehen tatsächlich aus wie eine Zeichnung für eine Geschichte über Könige, Prinzessinnen, Zauberer und Außerirdische. Sie sind übersät mit dem Zeug. Die Schiffssysteme versuchen zwar, deren Zweck zu analysieren, aber ich glaube, das ist alles nur Dekoration.«
»Sind deswegen die Flossen an den Schiffen auch so groß?«, fragte Lieutenant Yuon. »Sie sind viel höher als für die Sensoren und die Schildgeneratoren erforderlich.«
Desjani warf Castries einen fragenden Blick zu. »Lesen Sie solche Romane, Lieutenant?«
»In letzter Zeit nicht so viel, Captain. Ich … ich wollte sagen, ja, Captain.«
»Jeder braucht was zum Träumen«, meinte Geary nur, während Lieutenant Castries so tat, als dürfte sie ihre Sensoranzeigen auf keinen Fall aus den Augen lassen.
»Also bitte!« Desjani verdrehte die Augen. »Sie meinen eine von den Geschichten, in denen die hübsche, hochintelligente Prinzessin den schlafenden Black Jack mit einem Kuss weckt, damit sie gemeinsam den bösen Sternendämon besiegen und dann bis an ihr Lebensende glücklich sind?«
Auf einmal wurde Geary bewusst, dass er mit offenem Mund dasaß. »Sagen Sie mir bitte, dass das ein Witz ist.«
»Von wegen. Lieutenant Castries?«
»Eigentlich sind die Geschichten ziemlich gut«, gab sie zu. »Aber natürlich werden Sie da nie so dargestellt, wie Sie in Wahrheit sind.«
»Möchten Sie gern ein paar Illustrationen sehen?«, fragte Desjani.
»Nein, das möchte ich nicht. Ich würde mich lieber mit der Situation befassen, mit der wir konfrontiert sind. Sie sagen also, diese Schiffe sind massiv dekoriert, aber es dient keinem Zweck.«
Lieutenant Iger, der die ganze Zeit zugehört hatte, aber klug genug gewesen war, keinen Kommentar beizusteuern, nickte. »Es mag sich nicht auf ihre Gefechtstauglichkeit auswirken, Admiral, aber es deutet darauf hin, dass sie sich den Luxus leisten können, ihre Ressourcen in funktionslose Verzierungen zu investieren.«
Rione schüttelte den Kopf. »Ich habe ja schon so manche funktionslose Verzierung gesehen, und ich kann mit Gewissheit sagen, dass die Personen, die sich dieses Dekor angeschafft hatten, es sich nicht in allen Fällen wirklich leisten konnten. Es könnte hier um Status, Auftreten und andere Aspekte gehen, die wenig darüber aussagen, wie es um die finanzielle Seite bestellt ist.«
Wieder meldete sich Lieutenant Castries zu Wort, diesmal klang sie aufgeregt: »Captain, ich habe die Flossen an diesen Schiffen von unseren Systemen bewerten lassen und dabei die Variable gewählt, dass die Funktionalität nicht im Vordergrund steht. Daraufhin haben unsere Systeme eine hohe Wahrscheinlichkeit errechnet, dass beim Design der Flossen die Form eine größere Rolle gespielt hat als die Stärke.«
»Prahlerei?«, fragte Senatorin Suva. »Zurschaustellung? Können wir überhaupt sicher davon ausgehen, dass es sich um Kriegsschiffe handelt?«
»Wir haben verschiedene Waffen identifizieren können«, antwortete Lieutenant Iger. »Zwar noch nicht allzu viele, aber auf jeden Fall sind die Schiffe bewaffnet.«
Charban schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen. »Als außenstehender Beobachter gesprochen, muss ich sagen, dass ich schon viele Schiffe gesehen habe. Aber mir ist noch nie ein Schiff untergekommen, das so aussah wie eines von denen, bei dem es sich nicht um ein Kriegsschiff gehandelt hat.«
»Gemeinsame Designvergangenheit«, sagte Senator Sakai. »Das ist doch das, was unsere Systeme analysiert haben, nicht wahr? Diese Schiffe haben den gleichen Ursprung wie das, auf dem wir uns im Moment befinden. Wir können also relativ vom Aussehen auf die Funktion schließen.«
»Sie haben uns bemerkt«, meldete Lieutenant Yuon. »Sie ändern ihre Vektoren.«
Geary beobachtete sein Display und sah mit an, wie sich die unbekannten Kriegsschiffe in Richtung Sol zu drehen begannen und dann beschleunigten. »Sie bewegen sich zwar in unsere Richtung, aber sie fliegen nicht genau auf uns zu.«
»Sehen Sie sich den Vektor an. Die wollen uns zuerst einmal den Weg zurück zum Hypernet-Portal blockieren«, sagte Desjani. »Sie werden schon sehen. Wer immer die auch sind, die wollen uns den Fluchtweg versperren. Das ist eindeutig kein freundlicher Akt.«
»Vielleicht wollen sie …«, begann Suva, unterbrach sich dann aber und schüttelte den Kopf. »Es sieht tatsächlich so aus, als wollten sie uns nicht einfach so davonkommen lassen.«
»Sie versuchen uns eine Falle zu stellen?«, ereiferte sich Costa.
Geary sah zu Rione und Charban. »Sagen Sie bitte den Tänzern, dass sie so dicht wie möglich bei uns bleiben sollen. Wenn sie fragen, was es mit den anderen Kriegsschiffen auf sich hat, sagen Sie ihnen, wir versuchen herauszufinden, wer sie sind und was sie wollen.«
»Sie stellen sich das sehr einfach vor, was wir ihnen alles sagen sollen«, konterte Rione sarkastisch. »Wir werden unser Bestes geben.«
»Captain?«, rief der Komm-Wachhabende. »Von den nicht identifizierten Schiffen erreicht uns eine Nachricht. Sie verwendet ein altes Format, das der Standard für die Kommunikation innerhalb des Sol-Sternensystems darstellt. Die Nachricht ist gerichtet an … oh … an den ›leitenden und kontrollierenden Senior-Superiorbefehlshaber‹.«
»Ein bisschen sehr viel des Guten«, knurrte Desjani. »Stellen Sie das durch an den Admiral.«
»Alle auf der Brücke sollen das sehen«, wies Geary an. »Delegaten Rione und Charban, warten Sie mit der Nachricht an die Tänzer bitte, bis wir wissen, was uns diese anderen Schiffe zu erzählen haben.«
Vor ihm entstand das Bild eines älteren Mannes, der auf einer Brücke saß, die sich nicht allzu sehr von der auf der Dauntless unterschied. Das war keine Überraschung. Die effizienteste Anordnung der Kontrollen und der Wachstationen war vor Jahrhunderten entwickelt und seitdem kaum noch geändert worden. Egal, wo man auch im von Menschen erforschten All unterwegs war, auf einer Schiffsbrücke fand man sich immer sofort zurecht, da sich fast alles immer am gleichen Ort befand.