»Wieso wissen wir nicht mehr über diese Leute?«, beklagte sich Rione und sah wütend auf ihr Datenpad. Hektisch hatte sie alle möglichen Befehle eingetippt, und nun sah sie hilfesuchend Lieutenant Igers Bild an. »Außer buchstäblich vorsintflutlichen Texten gibt es hier keinerlei Informationen über die Sternensysteme jenseits von Sol.«
Iger hob entschuldigend die Schultern hoch. »In den letzten hundert Jahren hat sich alles auf die Syndikatwelten konzentriert. Und selbst in der Zeit davor würde ich davon ausgehen, dass es kaum jemanden interessierte, neue Daten über Sternensysteme zu sammeln, die so weit von der Allianz entfernt liegen. Sie sind sehr, sehr weit entfernt, und sie sind bedeutungslos.«
»Sie sind nicht bedeutungslos«, widersprach Senatorin Suva wütend, »wenn sie im Sol-Sternensystem als eine Art Polizei auftreten und uns drohen!«
»Es gibt keine früheren Aufzeichnungen darüber«, überlegte Senator Sakai, der auf sein eigenes Datenpad sah. »Diese Schiffe … das ist fast so, als würde man eine alternative Version von dem sehen, was aus uns geworden ist. Es ist bemerkenswert, lebendige Geschichte einfach so beobachten zu können.«
»Ich bevorzuge lebendige Geschichte, die nicht so gut bewaffnet und so aggressiv ist«, gab Geary zurück.
»Dem kann ich nur zustimmen«, sagte Sakai. »Es ist über hundert Jahre her, seit zum letzten Mal unser Militär hier war. Aber bei diesem Besuch und auch in der Zeit davor gibt es keine Aufzeichnung darüber, dass sich im Sol-Sternensystem irgendwelche Kriegsschiffe von den äußeren Sternen aufgehalten haben.«
»Ein Machtvakuum?«, fragte Geary. »Wir waren nicht da, also ist jemand anderer hergekommen?«
»Und jemand hat deren Anwesenheit hier im System ausgenutzt, um uns in Gefahr zu bringen?« Rione beschrieb eine wütende Geste. »So einfach ist das nicht. Nicht wenn es um Sol und die Alte Erde geht. Sie sollten von der Politik eigentlich abgeschottet sein. Sie sollten nicht in irgendwelche Streitigkeiten hineingezogen werden. Mich verwundert, dass irgendjemand einen so dreisten Zug unternommen hat, sich hier zur Autorität aufzuschwingen.«
»Die Allianz hat hier doch ein Hypernet-Portal gebaut«, warf Geary ein.
»Ja, vor fünfundvierzig Jahren«, entgegnete Rione, die wieder auf ihr Datenpad sah. »Zu der Zeit eine gewaltige Investition, sowohl finanziell als auch hinsichtlich der Ressourcen. Schließlich konnte die Allianz eigentlich weder von dem einen noch dem anderen etwas entbehren.«
»Und warum hat die Allianz es dann gebaut?«, wollte er wissen.
Rione schien nicht bewusst zu sein, dass diesmal die Blicke aller Anwesenden auf ihr ruhten, weil sie die Antwort hören wollten. »Nach allem, was ich gehört habe«, erwiderte sie achselzuckend, »war es politisches Kalkül. Ein Akt der Verzweiflung, aber ein Versuch, der die Anstrengung wert erscheinen ließ, um möglicherweise Unterstützung von außen im Kampf gegen die Syndiks zu erhalten. Außerdem sollte damit die Moral innerhalb der Allianz gestärkt werden. Sol ist für die Menschheit nach wie vor ein ganz besonderer Ort. Die Allianz verkündete damals öffentlich, dass sie das Portal hier errichte, damit Sol davon profitieren kann und damit die Menschen es leichter haben, unsere gemeinsame Heimat zu besuchen. Sehr selbstlos. Die tatsächliche Absicht war jedoch die, Sol symbolisch mit der Allianz und umgekehrt zu verbinden, auch wenn das niemand so sagte. Die Syndiks konnten diesen Schachzug nicht machen, weil wir als die Allianz ihnen im Weg waren.«
»Dann muss Sol zugestimmt haben, dass das Portal gebaut wird«, wandte Charban ein.
»Sie verstehen nicht. Sol ist noch immer zersplittert. In diesem System gibt es Dutzende souveräne Regierungen, und auf der Alten Erde selbst spielen noch immer Vermächtnisse aus uralten Zeiten eine Rolle. Man verträgt sich inzwischen, nachdem man sich in früheren Jahrhunderten bis zur Erschöpfung bekriegt hat, aber vermutlich diskutieren sie heute noch immer darüber, ob sie der Allianz erlauben sollen, das Hypernet-Portal zu bauen. Die Behörden der Alten Erde sind die Stimme einer Organisation, die auf der Asche der letzten hier ausgetragenen Kriege errichtet wurde. Eine Organisation, deren Aufgabe es ist, die Zurschaustellung von Macht durch irgendeine der Regierungen in diesem System zu verhindern.« Rione hielt inne, verzog das Gesicht, dann schlug sie ihre Hand mit so viel Wucht gegen die Stirn, dass das Klatschen von allen Seiten widerhallte. »Wie idiotisch! Wir hätten wissen müssen, dass so etwas dabei herauskommen würde!«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Senator Sakai, während alle anderen Rione nur abwartend ansahen.
»Wir haben das verursacht! Wir haben ihnen das Hypernet-Portal als Symbol überlassen. Genau das ist es, ein Symbol, dessen Bedeutung andere provozieren könnte, das uns aber keinen garantierten Profit bringt. Warum sind diese Kriegsschiffe von den äußeren Sternensystemen hier? Warum behaupten sie, Sol und die Alte Erde zu beschützen? Weil die Allianz symbolisch ihren Anspruch angemeldet hat, was von den Sternensystemen hier in der Nähe nicht ignoriert werden konnte. Sie sind hier, gerade weil wir das Portal gebaut haben. Dabei hätten wir wissen müssen, dass Sol keine andere Macht davon abhalten kann, das Gleiche zu tun, was auch wir unternahmen, nämlich einstimmig im scheinbar besten Interesse von Sol zu handeln.«
Nach einigen Sekunden sagte Sakai: »Ich glaube, Ihre Argumentation ist absolut korrekt.«
»Dann«, folgerte Sakai, »könnte das hier nur ein Missverständnis sein.«
»Ich hätte nichts dagegen«, stimmte Geary ihr zu. »Aber wir müssen diese Leute da draußen davon überzeugen, das Ganze ebenfalls auf die leichte Schulter zu nehmen.«
»Die werden nichts von dem akzeptieren, was wir zu sagen haben!«, warnte ihn Rione. »Was diese Leute angeht, sind wir hergekommen, haben unsere Flagge gehisst und damit unseren Anspruch angemeldet. Selbst wenn man sie nicht bestochen hätte, würden sie sich gegen unsere Anwesenheit aussprechen. Hat man sie bezahlt, damit wir dieses System nicht mehr lebend verlassen, dann wird sie das nur in ihrer Ansicht bestärken, die Allianz von hier fernzuhalten. Wer weiß? Vielleicht hat ja derjenige, der ihnen von unserer baldigen Ankunft erzählt hat, auch behauptet, dass wir hier eine permanente Militärpräsenz einrichten wollen.«
Costa verzog mürrisch den Mund. »Ich würde ihnen ja gern sagen, dass sie sich zum Teufel scheren sollen, aber sie sind uns zahlenmäßig zu deutlich überlegen.«
»Wir müssen über eine angemessene Vorgehensweise beraten«, machte Sakai klar. »Damit die Interessen der Allianz ebenso geschützt sind wie die Sicherheit dieser Mission und das Leben aller Menschen an Bord dieses Schiffs.«
»Nichts geschieht, solange die an Bord befindlichen Regierungsvertreter keine Entscheidung gefällt haben«, sagte Suva an Geary gewandt. »Unser Leben steht hier auch auf dem Spiel.«
Geary spürte, wie sich die Brückenbesatzung bei diesen Worten versteifte, aber bevor er etwas erwidern konnte, sagte Rione in ernstem und verständnisvollem Tonfalclass="underline" »Sie haben recht, Senatorin. Darüber muss debattiert und diskutiert werden. Wir müssen eine Vorgehensweise erarbeiten, wie wir auf diese unerwarteten Umstände reagieren sollten, und wir sollten unverzüglich mit dieser Diskussion anfangen.«
»Sie haben in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht«, konterte Suva abfällig.
»Doch, habe ich. Vor unserer Abreise gab mir Senator Navarro seine Stimmrechtsvollmacht.«
»Er …«
»Aber diese Stimmrechtsvollmacht will ich nicht überhastet einsetzen. Wir müssen darüber reden. Darüber, wer versucht haben könnte, ein Scheitern dieser Mission und die Zerstörung dieses Schiffs sicherzustellen. Darüber, welchen Weg wir am besten einschlagen. Aber das müssen wir unter acht Augen bereden.«