»Das stimmt, und es ist auch völlig richtig. Auf jeden Fall ist die Invincible bereit«, sagte der Admiral und tätschelte liebevoll das nächstbeste Schott, »jedem Versuch zu trotzen, sie am Erreichen des Allianz-Gebiets zu hindern. Sie halten uns die Kriegsschiffe vom Hals, und sollten die Syndiks das Einzige versuchen, was funktionieren dürfte, und getarnt an Bord kommen, dann werden wir sie uns vornehmen.«
»Gute Arbeit. Wirklich gute Arbeit«, lobte Geary. Ihm war nie die Möglichkeit in den Sinn gekommen, dass jemand versuchen könnte, die Invincible zu entern. Allerdings hatte er auch nicht die Zeit gehabt, sich solche Gedanken zu machen, aber genau das war ja auch der Grund, aus dem ein Befehlshaber gute Untergebene benötigte. Hinzu kam, dass die Montage dieser Pseudo-Zentralen neben den routinemäßigen Patrouillengängen dafür gesorgt hatte, dass Major Dietz’ Marines beschäftigt waren und keine Langeweile aufkommen konnte. Zwei Dinge machen mir vor allem Sorgen, hatte einer von Gearys früheren Vorgesetzten einmal zu ihm gesagt. Zum einen sind es die großen Geister im Flottenhauptquartier und die Frage, was sie als Nächstes für eine gute Idee halten. Zum anderen sind es gelangweilte Marines und die Frage, was sie für eine gute Idee halten könnten.
Der Weg durch die Schwerelosigkeit zurück zum gesicherten Bereich an Bord der Invincible kam ihm viel länger vor als der Hinweg zum Pseudo-Kontrollzentrum. Da Admiral Lagemann und Major Dietz nun nichts mehr zu erzählen hatten, gab es für Geary keine Ablenkung von dem eigenartigen Gefühl, dass unsichtbare Wesen ihn umgaben. Er musste ständig gegen den Wunsch ankämpfen, sich umzudrehen und hinter sich zu schauen, obwohl sich immer wieder aufs Neue Gänsehaut auf seinem Rücken ausbreitete. Das Gefühl, nicht willkommen zu sein, ein unerwünschter Eindringling zu sein, schien die giftige Luft ringsum zu erfüllen. Wenn das die Auswirkung irgendwelcher Kik-Ausrüstung an Bord des Schiffs war, dann vermochten die Kiks wohl Dinge auszuhalten, die für Menschen auf Dauer unerträglich waren. Falls es sich um einen Abwehrmechanismus handelte, der Feinden die Freude an ihrer Eroberung nehmen sollte, dann erzielte er genau die gewünschte Wirkung.
Die Invincible war kein fröhliches Schiff. Üblicherweise bezog sich eine solche Formulierung auf die Moral der Besatzung. Aber hier schlugen sich die Matrosen und die Marines gut, und es war das Schiff selbst, das missgelaunt und ärgerlich wirkte. Shuttlepiloten ließen üblicherweise die Zugangsluken offen stehen, während sie auf die Rückkehr ihrer Passagiere warteten, weil sie die Zeit oft nutzten, um sich ein wenig die Beine zu vertreten und mit dem Personal an der Luftschleuse zu reden. Aber diesmal war der Pilot in seinem Shuttle geblieben und hatte die innere und die äußere Luke geschlossen, sodass Geary erst noch warten musste, bevor er in das Shuttle einsteigen konnte. Die Zeit bis dahin nutzte er für eine Unterhaltung mit dem Trupp Marines, die hier Wache hielten. Normalerweise wurde eine Luftschleuse von ein oder höchstens zwei Marines bewacht, doch nachdem Geary mit der Invincible nähere Bekanntschaft geschlossen hatte, wunderte er sich nicht über die große Zahl an Wachen.
»Etwas an der Luft in der Schleuse dieses Schiffs hat sich nicht so angefühlt, wie es sein sollte«, entschuldigte sich der Pilot über Interkom, nachdem Geary im Passagierabteil Platz genommen hatte.
»Haben Ihre Sensoren irgendwelche Verunreinigungen festgestellt?«, wollte Geary von dem Mann wissen, auch wenn er die Antwort bereits erahnte.
»Nein, Sir. Die Anzeigen waren alle in Ordnung. Aber es hat sich seltsam angefühlt«, wiederholte er. »Ich hielt es für das Beste, die Luken bis zu Ihrer Rückkehr geschlossen zu lassen.«
»Sie hatten keine Lust, sich auf einem Kriegsschiff einer nichtmenschlichen Spezies umzusehen?«, hakte Geary nach.
»Nein, Sir. Das heißt … eigentlich schon, Sir. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, und die Marines meinten auch, ich sollte mich eine Weile umschauen. Aber als ich dann vor der Luftschleuse stand, die ins Schiffsinnere führt, da … also … Es fühlte sich eigenartig an. Vor allem, weil diese Marines darauf beharrten, ich solle allein reingehen.«
Gelangweilte Marines. Eindeutig etwas, das man nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte.
Die Zahl der Personen in der Flotte, die den wahren Grund dafür kannten, wieso die Flotte noch für Wochen bei Midway bleiben würde, belief sich auf vier: Geary, Desjani, Rione und Charban. Die anhaltenden Reparaturarbeiten waren die ideale Rechtfertigung für den verlängerten Aufenthalt, doch die Rückmeldungen, die Geary von den untergebenen Offizieren erhielt, machten ihm deutlich, dass die Leute zunehmend rastlos wurden.
Diese Erkenntnis erfuhr kurz darauf eine beunruhigende Bestätigung durch einen Vorfall auf einem der Sturmtransporter.
Dr. Nasr wirkte erschöpft, aber das war schon seit einer Weile so. »Wir hatten einen Zwischenfall mit einem Marine, und ich wollte sicherstellen, dass Sie darüber informiert sind.«
»Corporal Ulanov«, erwiderte Geary. »General Carabali hat mir bereits davon erzählt. Ulanov hat eine Waffe an sich genommen und dann versucht, sein Truppenabteil in Stücke zu schießen. Aber das hat nicht geklappt, da sein Zugführer alle ihm zur Verfügung stehenden Waffen deaktiviert hatte.«
»Ja, genau. Corporal Ulanov.« Nasr starrte einen Moment lang vor sich hin, ehe er sich wieder auf Geary konzentrierte. »Ich dachte, es würde Sie interessieren, was die medizinische Untersuchung ergeben hat.«
Geary seufzte und hob hilflos die Hände. »Er hat zu viele Gefechte mitgemacht und möchte nach Hause.«
»Ja und nein.« Nasr lächelte ihn humorlos an. »Er will nach Hause. Aber der wahre Grund für seine versuchte Zerstörungsaktion ist der, dass Corporal Ulanov auch Angst davor hat, nach Hause zu kommen.«
»Angst?« Wenn eine Information so grundlegend von dem abwich, was man erwartete, dann dauerte es eine Weile, ehe man sie wirklich verarbeitet hatte. Geary stellte fest, dass er sich wiederholte. »Angst? Er hat Angst davor, nach Hause zu kommen?«
»Wir beobachten mehrere Fälle dieser Art, nur ist es bei Ulanov am schlimmsten«, ließ Nasr ihn wissen. »Admiral, was geschieht, wenn wir heimgekehrt sind? Was wird dann aus dem Schiff und aus diesen Marines?«
»Soweit ich weiß, werden sie weiter meinem Kommando unterstellt bleiben.«
»Aber vielleicht auch nicht.«
»Das kann sein, aber das weiß ich nicht.«
»Genau das ist das Problem«, redete Nasr weiter. »Sie wissen es nicht, ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Corporal Ulanov hat seinem medizinischen Betreuer immer wieder gesagt, dass er Angst hat. Es dauerte eine Weile, bis sich herausstellte, dass sich Ulanov vor der Ungewissheit fürchtet. Es gefällt ihm, ein Marine zu sein. Er weiß, er kann ins Gefecht ziehen, auch wenn die körperliche und geistige Belastung dieser Gefechte bei ihm längst Schäden hinterlassen haben, die er aber nicht einsieht. Doch er befürchtet, wie eine Maschine ausgemustert zu werden, für die man keine Verwendung mehr hat. Er will schon nach Hause, aber er fürchtet sich auch davor, was aus ihm werden könnte, wenn er erst mal wieder zu Hause ist. Dieser innere Konflikt hat ihn ausrasten lassen.«
Geary sackte in sich zusammen, als er über Ulanov und die vielen anderen in der Flotte nachdachte, die alle von den gleichen Zukunftsängsten geplagt wurden. »Ich kann sie nach Hause bringen. Wir werden hier nicht mehr lange ausharren müssen. Aber ich kann nicht viel daran ändern, dass sie sich Sorgen wegen ihrer Zukunft machen. Ich kann ihnen keine Antworten liefern.«
»Sie können etwas für sie tun, Admiral. Sagen Sie den Leuten, dass Sie sich nach Kräften für ihr Wohlergehen einsetzen werden. Das mag Ihnen nicht als viel erscheinen, aber den Leuten wird es sehr viel bedeuten.« Nasr verzog einen Mundwinkel zu einem betrübten Lächeln. »Als Arzt neigt man leicht dazu, Menschen als eine Ansammlung von Körperteilen anzusehen, die entweder ordentlich funktionieren oder die ersetzt oder repariert werden müssen. Dabei vergisst man den Menschen selbst und konzentriert sich zu sehr auf die Bestandteile. Ich habe Befehlshaber erlebt, die einzelne Menschen nur als einen Teil des Organismus sehen, über den sie die Befehlsgewalt haben. Wenn ein Private fällt, wird er durch einen anderen Private ersetzt. Weiter nichts. Dabei fürchten wir uns doch alle davor, als ein austauschbarer, entbehrlicher Teil angesehen zu werden, nicht wahr?«