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»Die können diesen Schweren Kreuzer aber nicht eher erreichen als Boyens’ Schiffe«, betonte sie. »Wenn der Kreuzer nicht mit so viel zusätzlicher Masse unterwegs wäre, könnte er vielleicht entkommen. So dagegen ist er flügellahm.«

Geary betrachtete sein Display. Die Gefechtssysteme der Dauntless lieferten die gleiche Einschätzung der Situation wie Desjani. Von der Physik aus gesehen war die Situation nicht komplex, es war nur eine Frage von Masse, Beschleunigung und Entfernungen. Die geschwungenen, sich durchs All ziehenden Linien stellten wahrscheinliche Flugbahnen dar, auf denen markiert war, ab wo sich das Zielobjekt in der Reichweite der verschiedenen Waffensysteme befinden würde. Der neu eingetroffene Schwere Kreuzer flog mit nur 0,05 Licht, wohl um Treibstoff zu sparen, und obwohl er inzwischen mit aller Kraft beschleunigte, würden Boyens’ Schwere Kreuzer ihn eingeholt haben, bevor jemand ihm zu Hilfe kommen konnte. Diese Kreuzer gingen bereits auf 0,1 Licht und würden sicher noch bis auf 0,2 Licht beschleunigen. »Ich möchte wissen, wen dieser Kreuzer befördert, dass dafür zusätzliche Lebenserhaltungssysteme notwendig sind.«

»Mehr Syndiks«, meinte Desjani unüberhörbar desinteressiert.

»Mehr Leute, die vor den Syndiks fliehen«, sagte Geary. »Vielleicht die Familien der Besatzungsmitglieder.«

Sie schaute vor sich aufs Display und presste die Lippen zusammen, bis sie ihn schließlich ansah. »Könnte sein. Im Krieg haben die Syndiks unzählige Familien umgebracht, und das werden sie jetzt auch wieder machen. Ich habe vor langer Zeit aufhören müssen, mir darüber Gedanken zu machen, weil es vor allem in Situationen wie dieser hier absolut nichts gab, was ich dagegen hätte unternehmen können.«

Er nickte bedächtig. Es war alles längst geschehen. Die Familien und die Crewmitglieder auf dem Schweren Kreuzer waren vermutlich von den Syndik-Angreifern ermordet worden, noch bevor das Licht dieses Schiffs vom Eintreffen in Midway die Dauntless sie überhaupt erreicht hatte.

»Wir beobachten, dass die Midway-Flotte ihre Vektoren ändert«, meldete der Ablauf-Wachhabende. Die kleine, zu Midway gehörende Flotte aus ehemaligen Syndik-Kriegsschiffen hatte in einer Entfernung von fünf Lichtminuten zum Hypernet-Portal ihre Bahnen gezogen. Kaum dass der neue Kreuzer aufgetaucht war, hatten sich diese Schiffe gleichfalls auf den Weg zum Neuankömmling gemacht.

»Die können den Kreuzer nicht mehr rechtzeitig erreichen«, sagte Desjani in professionell distanziertem Tonfall. »Und selbst wenn sie es schaffen, ist Boyens’ Verfolgergruppe ihnen im Verhältnis von fast drei zu eins überlegen.«

»Warum haben sie es dann überhaupt versucht? Kommodor Marphissa kann das genauso berechnen lassen wie wir. Sie muss gewusst haben, dass es hoffnungslos sein würde.«

»Vielleicht wollte sie ja ein paar von den Schweren Kreuzern erwischen. Allerdings dürfte sie bei dem Versuch die Hälfte ihrer Schiffe verloren haben.« Desjanis emotionale Distanz zum Geschehen entglitt ihr ein wenig, wie ihre Stimme erkennen ließ. Dadurch war herauszuhören, dass sie frustriert und wütend war.

Geary sah, wie sich die vorausberechneten Flugbahnen aller Beteiligten ein wenig veränderten, als die automatischen Systeme der Dauntless Kurs und Geschwindigkeit der Syndik-Kriegsschiffe und der Midway-Flotte weiter korrigierten. Der einzelne Schwere Kreuzer, der durch das Hypernet-Portal ins System gekommen war, befand sich nun auf einem Kurs zu einem von mehreren Sprungpunkten, denen der Stern Midway seinen Namen verdankte. CEO Boyens’ Syndik-Flotte war nur ein paar Lichtminuten vom Portal entfernt gewesen, etwas mehr zum Stern hin gelegen und leicht oberhalb des Portals. Die Schweren Kreuzer und die Jäger waren auf flacheren, schnelleren Flugbahnen unterwegs, sodass sie den fliehenden Kreuzer einholen konnten, lange bevor der sich in Sicherheit gebracht hatte.

Die Flotte des »Freien und unabhängigen Sternensystems Midway«, bestehend aus zwei Schweren und fünf Leichten Kreuzern sowie mehreren Jägern, hatte ihren eigenen Orbit verlassen, der fünf Lichtminuten unterhalb und an Steuerbord der Syndik-Flotte verlief. Damit waren diese Schiffe viel zu weit entfernt, um auf die Geschehnisse in unmittelbarer Nähe zum Hypernet-Portal zu reagieren. Diejenigen, die sterben würden, waren längst tot. Allerdings war es verdammt schwer, so zu tun, als würde einen das nicht kümmern.

Geary fühlte sich versucht, sein Display abzuschalten, um sich nicht etwas ansehen zu müssen, auf das er ohnehin keinen Einfluss hatte. Er konnte nur hoffen, dass es dem fliehenden Schiff gelungen war, ein paar von Boyens’ Schiffen zu beschädigen, und dass wenigstens ein Teil der Midway-Flotte ihren eigenen Angriff auf die viel stärkere Syndik-Streitmacht überleben würde.

Doch er schaltete sein Display nicht ab, weil es seine Aufgabe war, sich das Geschehen anzusehen. Mit einem Anflug von Übelkeit widmete er sich der Anzeige, die nur darstellte, was längst geschehen war und sich nicht mehr umkehren ließ.

»Was ist denn das?«

Ihm war nicht bewusst, dass er selbst das laut ausgesprochen hatte, bis er Desjani in einem Tonfall lachen hörte, der widerstrebende Bewunderung erkennen ließ. »Die Midway-Kriegsschiffe wollen gar nicht dem fliehenden Kreuzer helfen. Ihr Kommodor hat Kurs auf das Syndik-Schlachtschiff genommen.«

»Das ist doch …« Geary betrachtete, wie sich die Lage entwickelte, als die Vektoren der Midway-Streitmacht sich eingependelt hatten und erkennen ließen, dass die Schiffe auf einen Abfangkurs zu Boyens’ einzelnem Schlachtschiff gegangen waren, in dessen Nähe sich noch ein paar Leichte Kreuzer aufhielten. »Was macht sie denn da? Die MidwayFlotte genügt nicht, um sich mit einem Schlachtschiff anzulegen, auch wenn die meisten Eskortschiffe anderweitig zu tun haben.«

»Sehen Sie sich die Geometrie an, Admiral«, empfahl Desjani ihm. »Sie konnten nicht als Erste den fliehenden Kreuzer einholen, aber sie schaffen es zu Boyens’ Schlachtschiff, bevor dessen Kreuzer das einzelne Schiff zerstören und zu ihm zurückkehren kann.«

»Boyens hat trotzdem nicht viel Grund zur Sorge. Er könnte ein paar Leichte Kreuzer verlieren, aber sein Schlachtschiff …« In der Syndik-Formation flammte ein grelles rotes Symbol auf – eine Kollisionswarnung, die beharrlich über dem Syndik-Schlachtschiff blinkte. Geary verfolgte zwei voraussichtliche Flugbahnen zurück zu den Schiffen, die diesen Kurs eingeschlagen hatten: zwei Jäger der Midway-Flotte. »Die Vorfahren mögen uns beistehen. Glauben Sie, die werden durchkommen?«

Desjani rieb sich das Kinn und betrachtete mit berechnendem Blick ihr Display. »Das ist die einzige Möglichkeit, Boyens’ Schlachtschiff schwer zu beschädigen oder vielleicht sogar zu zerstören. Da die Schweren Kreuzer und die Jäger die Verfolgung des einzelnen Schiffs aufgenommen haben und da die übrigen Midway-Schiffe diese beiden Jäger abschirmen, um an den verbliebenen Eskortschiffen vorbeizukommen, könnte es funktionieren. Allerdings ist das eine verrückte Taktik.«

»Kommodor Marphissa ist eine ehemalige Syndik«, betonte Geary. »Boyens könnte etwas über sie wissen.«

»Meinen Sie damit die Tatsache, dass sie einen Hass auf Syndik-CEOs hat?«, fragte Desjani. »Und dass sie deshalb wirklich Boyens’ Schlachtschiff von zwei ihrer Schiffe rammen lassen wird? Ja, Boyens könnte so etwas wissen.«

Entsetzt starrte Geary auf sein Display. Würde er mitansehen müssen, wie zwei Schiffe ihre eigene Zerstörung in Kauf nahmen, nur um vielleicht der Syndik-Streitmacht in ihrem System einen vernichtenden Schlag zuzufügen? »Augenblick, etwas stimmt da nicht. Angenommen, die Kommodor will wirklich dieses Schlachtschiff außer Gefecht setzen – warum sollte sie dann die Jäger schon so früh auf Kollisionskurs gehen lassen?«

»Wenn sie nicht verrückt ist – und dass sie das ist, glaube ich nicht –, dann würde sie nicht jetzt zu erkennen geben, dass sie das Schlachtschiff rammen lassen will.« Desjani lachte abermals bewundernd auf. »Es ist ein Bluff. Boyens kann es nicht riskieren, dieses Schlachtschiff zu verlieren. Aber er kann auch nicht sicher sein, dass es seinen verbliebenen Eskortschiffen gelingen wird, die Jäger aufzuhalten. Was wird er also machen?«