Er schwieg.
»Du hast es schon gehört?«, vermutete ich.
»Wir sind nur sehr wenige, Anton.«Kostja sah mir in die Augen.»Wenn einer von uns stirbt, spüren wir das sofort.«
»Verstehe. Zieh die Schuhe aus und lass uns in die Küche sehen. Reden wir in Ruhe über alles.«
Kostja widersprach nicht. Fieberhaft überlegte ich, was ich machen sollte. Vor fünf Jahren, als ich ein Anderer geworden war und die Welt mir ihre ZwielichtSeite offenbart hatte, sah ich mich mit etlichen verblüffenden Entdeckungen konfrontiert. Doch dass direkt über mir eine Vampirfamilie wohnte, war wohl eine der schockierendsten.
Ich erinnere mich noch daran, als sei es gestern gewesen. Ich kam vom Unterricht nach Hause, völlig gewöhnlichem Unterricht, der mich an mein Institut denken ließ, das ich vor gar nicht so langer Zeit absolviert hatte. Drei Doppelstunden, ein Dozent, die Hitze, die die weißen Kittel am Körper kleben ließ: Wir hatten einen Hörsaal im Institut für Medizin angemietet. Ich ging nach Hause und trödelte ein wenig herum, verschwand mal im Zwielicht - nur kurz, mehr brachte ich noch nicht zustande -, mal sondierte ich die anderen Fußgänger. Und dann begegnete ich vor der Haustür meinen Nachbarn.
Sehr nette Menschen. Als ich mir einmal bei ihnen einen Drillbohrer leihen wollte, kam Kostjas Vater Gennadi, von Beruf Bauarbeiter, prompt mit zu mir, um mir im Kampf gegen die Betonwände beizustehen, als sei das nichts - und gab mir anschaulich zu verstehen, dass ein Intelligenzler ohne das Proletariat erledigt ist.
Und mit einem Mal sah ich, dass sie überhaupt keine Menschen waren.
Es war schrecklich. Eine braun-graue Aura, eine erdrückende Last. Wie gebannt blieb ich stehen und schaute sie voller Entsetzen an. Polina, Kostjas Mutter, entglitten leicht die Gesichtszüge, der Junge erstarrte und drehte sich weg. Das Familienoberhaupt dagegen kam auf mich zu, mit jedem Schritt weiter ins Zwielicht eindringend, kam mit jenem graziösen Gang auf
mich zu, der nur ihnen gegeben ist, den Vampiren, die zugleich lebendig und tot sind. Für sie ist das Zwielicht die ganz natürliche Umwelt.
Die Welt um uns herum war grau und tot. Ich selbst hatte gar nicht bemerkt, wie ich in seinem Sog ins Zwielicht abgetaucht war.
»Ich wusste immer, dass du eines Tages diese Barriere überschreiten würdest«, meinte er.»Das ist völlig in Ordnung.«
Ich trat einen Schritt zurück - und Gennadis Gesicht erzitterte.
»Da ist wirklich nichts dabei«, versicherte er. Er krempelte den Ärmel seines Hemds auf, sodass ich das Registrierungssiegel sehen konnte, einen hellblauen Abdruck auf grauer Haut.»Wir sind alle registriert. Polina! Kostja!«
Seine Frau trat ebenfalls ins Zwielicht und knöpfte die Bluse auf. Der Kleine bewegte sich nicht und zeigte das Siegel erst auf einen gestrengen Blick seines Vaters hin.
»Ich muss das überprüfen«, flüsterte ich. Meine Handbewegungen wollten mir nicht gelingen, zweimal vertat ich mich und musste von vorn anfangen. Geduldig ließ Gennadi alles über sich ergehen. Endlich reagierte das Siegel. Permanente Registrierung, keine Ordnungswidrigkeiten…
»Alles einwandfrei?«, fragte Gennadi.»Können wir gehen?«
»Ich…«
»Schon gut. Wir wussten, dass du irgendwann ein Anderer wirst.«
»Geht«, sagte ich. Das entsprach zwar nicht den Vorschriften, aber nach denen stand mir jetzt nicht der Sinn.
»Ja…«Bevor Gennadi aus dem Zwielicht trat, zögerte er kurz.»Ich war in deinem Hause… Fühl dich nicht länger an deine Einladung gebunden, Anton.«
Alles war völlig korrekt.
Nachdem sie gegangen waren, setzte ich mich auf eine Bank, neben eine alte Frau, die sich im zarten Sonnenschein wärmte. Bei einer Zigarette versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen. Die Frau sah mich an.
»Nette Leute, nicht wahr, Arkaschenka?«, tat sie ihre Meinung kund.
Nie konnte sie sich meinen Namen merken. Sie hatte noch höchstens zwei, drei Monate zu leben, das erkannte ich jetzt ganz deutlich.
»Nicht ganz…«, sagte ich. Drei Zigaretten später trottete ich nach Hause. Vor der Tür blieb ich kurz stehen, um zu sehen, wie der graue Weg, der»Vampirpfad«, erlosch. Erst am selben Tage hatte ich gelernt, ihn zu sehen…
Bis zum Abend trödelte ich herum. Blätterte in meinen Aufzeichnungen, wofür ich ins Zwielicht eintreten musste. In der normalen Welt waren diese dicken Hefte jungfräulich weiß. Zu gern hätte ich meinen Gruppenbetreuer angerufen - oder den Chef, denn der hatte mich unter seine Fittiche genommen. Doch ich ahnte, dass ich diese Entscheidung allein treffen musste.
Am Abend hielt ich es nicht mehr aus. Ich ging einen Stock höher und klingelte. Kostja öffnete. Er zuckte zusammen. In der Realität wirkt er - wie seine gesamte Familie - völlig durchschnittlich…
»Ruf deine Eltern«, bat ich.
»Wozu?«, brummte er.
»Ich möchte euch zum Tee einladen.«
Gennadi tauchte hinter seinem Sohn auf, tauchte aus dem Nichts auf, denn er war weit fähiger als ich, der frisch gebackene Adept des Lichts.
»Bist du dir sicher, Anton?«, fragte er zweifelnd.»Das ist keineswegs nötig. Alles ist völlig in Ordnung so.«
»Ich bin mir sicher.«
Er schwieg. Dann zuckte er mit den Schultern.»Wir kommen morgen. Wenn du uns denn einlädst. Überstürze nichts!«
Gegen Mitternacht war ich wahnsinnig froh, dass sie abgelehnt hatten. Gegen drei Uhr nachts versuchte ich einzuschlafen, beruhigt von dem Wissen, dass sie nicht in mein Haus kommen konnten. Niemals.
Am Morgen - ich hatte kein Auge zugetan - stand ich am Fenster und schaute auf die Stadt. Es gibt nur wenig Vampire. Sehr wenig. Im Umkreis von zwei, drei Kilometern keinen weiteren.
Was heißt das - ausgestoßen zu sein? Bestraft nicht für ein Verbrechen, sondern für die theoretische Möglichkeit, eins zu begehen? Und wie soll so einer leben - nun, nicht leben, man bräuchte hier ein anderes Wort -, Tür an Tür mit seinem Aufpasser?
Nach dem Unterricht kaufte ich auf dem Heimweg eine kleine Torte zum Tee.
Und jetzt saß Kostja, ein netter und kluger Kerl, der an der Moskauer Staatlichen Universität Physik studierte
und der das Unglück hatte, als lebender Toter geboren worden zu sein, neben mir und rührte mit dem Teelöffel in der Zuckerdose, als wüsste er nicht, ob er sich welchen nehmen sollte. Woher kam nur diese Verlegenheit?
Am Anfang hatte er fast jeden Tag auf einen Sprung hereingeschaut. Ich war sein direkter Gegenspieler, ich stand auf der Lichten Seite. Doch ich ließ ihn ins Haus, vor mir brauchte er keine Geheimnisse zu haben. Wir konnten einfach miteinander quatschen, ins Zwielicht abtauchen und mit unseren Fähigkeiten angeben.»Anton, ich habe eine Transformation geschafft.«
»Und mir wachsen gerade Eckzähne, rrr!«
Das Seltsamste war jedoch, dass das alles völlig normal war. Lachend beobachtete ich den jungen Vampir, der gerade versuchte, sich in eine Fledermaus zu verwandeln: Das ist eine Aufgabe für einen Vampir der Spitzenklasse, der Kostja nicht war und, so das Licht will, nie sein würde. Manchmal schimpfte ich dann mit ihm:»Kostja… Das darfst du niemals machen. Verstehst du?«Und auch das war völlig normal.
»Kostja, ich habe nur meine Arbeit gemacht.«
»Quatsch.«
»Sie haben gegen das Gesetz verstoßen. Verstehst du? Nicht unser Gesetz, um das klarzustellen. Nicht nur die Lichten haben das angenommen, sondern alle Anderen. Dieser junge Vampir…«