Auf einer kleinen Lichtung sprang ein Tiger. Genauer, eine Tigerin. Ein schwarz-orange gestreiftes Fell glänzte in den Strahlen der aufgehenden Sonne. Die Tigerin sah mich nicht, sie bemerkte jetzt nichts und niemanden. Tollte zwischen den Bäumen herum, und die scharfen Dolche ihrer Krallen rissen die Rinde auf. Weiße Kratzer durchfurchten die Kiefern. Mitunter beruhigte sich die Tigerin etwas, stellte sich auf die Hinterpfoten und bearbeitete gezielt die Stämme mit ihren Krallen.
Ich zog mich langsam zurück.
Jeder von uns entspannt sich auf seine Weise. Jeder von uns trägt seinen Kampf nicht nur mit dem Dunkel aus, sondern auch mit dem Licht. Denn das blendet mitunter.
Man darf uns nur nicht bedauern: Wir sind sehr, sehr stolz. Soldaten im Weltkrieg zwischen Gut und Böse, ewige Freiwillige.
Vier
Der junge Mann betrat das Restaurant mit einer Sicherheit, als käme er jeden Tag zum Frühstück hierher. Aber das war nicht der Fall.
Auch auf den Tisch, an dem ein kleiner dunkelhäutiger Mann saß, steuerte er sofort zu, als würden die beiden sich seit langem kennen. Übrigens traf auch das nicht zu. Beim letzten Schritt ließ er sich langsam auf die Knie sinken. Brach nicht zusammen, warf sich nicht zu Boden, sondern ließ sich ruhig nieder, voller Würde und mit geradem Rücken.
Ein vorbeilaufender Kellner schluckte und machte kehrt. Er hatte schon viel erlebt, weit mehr als solche Banalitäten wie einen popeligen Mafioso, der vor seinem Boss katzbuckelt. Freilich, der jüngere Mann wirkte nicht wie ein kleiner Ganove, der ältere nicht wie ein Boss.
Und die Unannehmlichkeiten, deren Geruch er wahrnahm, drohten weitaus ernster zu werden als ein Bandenkrieg. Er wusste nicht, was genau hier vor sich ging, spürte aber etwas, denn er war ein Anderer, wenn auch kein initiierter.
Übrigens hatte er diese Szene schon im nächsten Moment völlig vergessen. Etwas hatte ihm auf seltsame Weise das Herz zusammengepresst, was genau, vermochte er jedoch nicht zu sagen.
»Steh auf, Alischer«, sagte Geser leise.»Steh auf. Bei uns ist das nicht üblich.«
Der Mann erhob sich und setzte sich dem Oberhaupt der Nachtwache gegenüber. Er nickte.»Bei uns auch nicht. Nicht mehr. Aber mein Vater hat mich darum gebeten, vor dir auf die Knie zu fallen, Geser. Er war noch von der alten Schule. Er hätte vor dir gekniet. Aber er kann es nicht mehr.«
»Du weißt, wie er gestorben ist?«
»Ja. Ich habe es mit seinen Augen gesehen, mit seinen Ohren gehört, habe seinen Schmerz gelitten.«
»Gib auch mir seinen Schmerz, Alischer, Sohn des Devona und einer Menschenfrau.«
»Nimm das, worum du bittest, Geser, Vernichter des Bösen, der du den Göttern gleichst, die es nicht gibt.«
Sie sahen einander in die Augen. Nach einer Weile nickte Geser.»Ich kenne die Mörder. Dein Vater wird gerächt werden.«
»Das muss ich tun.«
»Nein. Du kannst es nicht, und du hast nicht das Recht dazu. Ihr seid illegal nach Moskau gekommen.«
»Nimm mich in deine Wache auf, Geser.«
Der Chef der Nachtwache schüttelte den Kopf.
»Ich war der Beste in Samarkand, Geser.«Der junge Mann sah ihn eindringlich an.»Lach nicht, ich weiß, dass ich hier der Letzte sein werde. Nimm mich in die Wache auf. Als Geringsten unter den Schülern. Als Kettenhund. Beim Gedenken an meinen Vater bitte ich dich - nimm mich in die Wache auf.«
»Du bittest um zu viel, Alischer. Du bittest darum, dass ich dir deinen Tod schenke.«
»Ich bin bereits gestorben, Geser. Als man die Seele meines Vaters trank, bin ich mit ihm gestorben. Lächelnd bin ich fortgegangen, während er die Dunklen abgelenkt hat. Bin in die Metro eingestiegen, während man seine Asche mit Füßen getreten hat. Geser, ich habe das Recht, dich darum zu bitten.«
Geser nickte.»Dann soll es so sein. Du bist in meiner Wache, Alischer.«
Kein Gefühl spiegelte sich auf dem Gesicht des jungen Mannes wider. Er nickte und presste einen kurzen Moment lang die Hand auf die Brust.
»Wo ist das, was ihr mitgebracht habt, Alischer?«
»Ich habe es bei mir, Herr.«
Schweigend streckte Geser die Hand über den Tisch hinweg aus.
Alischer öffnete die Gürteltasche. Und holte sehr behutsam ein kleines rechteckiges Päckchen aus grobem Stoff heraus.»Nimm es, Geser, erlöse mich von dieser Pflicht.«
Gesers Hand bedeckte die seines Gegenübers, die Finger schlossen sich. Schon in der nächsten Sekunde, als Geser die Hand zurückzog, lag nichts mehr auf der des jungen Mannes.»Damit bist du deines Dienstes entbunden, Alischer. Jetzt können wir uns einfach entspannen. Essen, trinken und uns an deinen Vater erinnern. Ich werde dir alles erzählen, woran ich mich erinnern kann.«
Alischer nickte. Doch nichts ließ erkennen, ob ihn die Worte Gesers freuten oder ob er ihm einfach jeden Wunsch erfüllt hätte.
»Wir haben eine halbe Stunde«, meinte Geser beiläufig.»Dann tauchen die Dunklen hier auf. Sie haben deine Spur doch noch aufgenommen. Zu spät zwar, aber immerhin.«
»Wird es einen Kampf geben, Herr?«
»Ich weiß es nicht.«Geser zuckte mit den Achseln.»Was spielt das schon für eine Rolle? Sebulon ist weit weg. Vor den andern habe ich keine Angst.«
»Es wird einen Kampf geben«, meinte Alischer gedankenverloren. Und ließ den Blick durchs Restaurant wandern.
»Vertreibe die Gäste«, riet Geser.»Sanft, unaufdringlich. Ich will mir deine Technik anschauen. Dann werden wir uns entspannen und auf unsern Besuch warten.«
Gegen elf wachten die andern allmählich auf.
Ich wartete auf der Terrasse, in einem Liegestuhl, die Beine ausgestreckt und von Zeit zu Zeit an meinem Strohhalm nuckelnd, der in einem hohen Glas mit Gin Tonic steckte. Es ging mir gut, wie ein Masochist genoss ich den süßen Schmerz. Sobald jemand in der Tür erschien, winkte ich ihm einen freundlichen Gruß zu und schenkte ihm einen kleinen Regenbogen, der aus meinen gespreizten Fingern in den Himmel hinaufschoss. Ein Kinderspaß, über den alle lachen mussten. Als die gähnende Julja diesen Gruß sah, kreischte sie und schickte mir einen Regenbogen zurück. Zwei Minuten lang wetteiferten wir, dann bauten wir aus den beiden Bögen einen neuen, relativ großen, der bis in den Wald reichte. Julja teilte uns mit, sie werde jetzt den Topf mit dem Gold suchen, und schritt stolz unter dem bunten Gewölbe einher. Einer der Terrier rannte gehorsam neben ihr her.
Ich wartete.
Als Erste von denen, auf die ich wartete, tauchte Lena auf. Eine lustige, muntere Frau im Badeanzug. Als sie mich sah, schien sie einen Moment lang peinlich berührt, nickte dann aber und lief zum Tor. Was für eine Freude, zu sehen, wie sie sich bewegte, diese schlanke, wohlgeformte Frau voller Leben. Jetzt würde sie ins kalte Wasser springen, sich allein austoben und mit frischem Appetit zum Frühstück kommen.
Als Nächstes erschien Ignat auf der Bildfläche. In Badehosen und Gummilatschen.»Hallo, Anton!«, rief er fröhlich. Er kam auf mich zu, zog einen Liegestuhl heran und ließ sich auf ihn plumpsen.»Wie ist die Stimmung?«
»Kämpferisch!«, teilte ich mit und hob das Glas an.
»Tüchtig.«Ignat blickte sich suchend nach der Flasche um, fand sie aber nicht, steckte sich den Strohhalm zwischen die Lippen und trank völlig unbekümmert aus meinem Glas.»Zu schlaff, du verdünnst ja.«
»Ich hab gestern Abend mehr als genug gehabt.«
»Stimmt, du solltest dich schonen«, riet Ignat.»Wir haben gestern den ganzen Abend bloß Sekt getrunken. In der Nacht haben wir dann mit Kognak angefangen. Ich hatte schon Angst, der Kopf würde mir heute platzen, ist aber nicht der Fall. Glück gehabt.«