»Ich habe gar nichts erwartet.«
»Dann entschuldige die böse Überraschung!«
»Hast du meine Spur im Zimmer gespürt? Beim Aufwachen?«
»Ja.«Umständlich zog Swetlana aus der schmalen Hosentasche ein Päckchen Zigaretten hervor und zündete sich eine an.»Ich bin müde. Selbst wenn ich jetzt nur lerne und nicht arbeite, bin ich müde. Und bin hierher gekommen, um mich zu erholen.«
»Du hast doch selbst gesagt, dass dir die Fröhlichkeit hier aufgesetzt vorkommt…«
»Und du hast dich dem nur zu begeistert angeschlossen!«
»Stimmt«, gab ich zu.
»Und dann bist du weggegangen, um Wodka zu saufen und Verschwörungen aufzuziehen.«
»Verschwörungen gegen wen?«
»Gegen Geser. Und gegen mich, nebenbei bemerkt. Wirklich komisch! Selbst ich habe das gespürt! Du solltest dich nicht für einen so großen Magier halten, der…«
Sie stockte. Aber zu spät.
»Ich bin kein großer Magier«, sagte ich.»Dritter Grad. Vielleicht auch zweiter. Mehr nicht. Jeder hat eben seine Grenzen, die er nicht überschreiten kann, selbst wenn er tausend Jahre lebt.«
»Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen«, meinte Sweta verstört. Sie ließ die Hand mit der Zigarette sinken.
»Vergiss es. Ich nehme so was nicht krumm. Weißt du eigentlich, warum die Dunklen so oft untereinander Familien gründen, während wir uns lieber eine Frau oder einen Mann unter den Menschen suchen? Die Dunklen ertragen Ungleichheit und permanente Konkurrenz besser.«
»Ein Mensch und ein Anderer - das ist noch größere Ungleichheit.«
»Das zählt nicht. Wir gehören zwei unterschiedlichen Arten an. Das kannst du nicht vergleichen.«
»Ich möchte, dass du eins weißt.«Swetlana nahm einen tiefen Zug.»Ich wollte es nicht so weit kommen lassen. Ich habe darauf gewartet, dass du herunterkommst, alles siehst und eifersüchtig wirst.«
»Tut mir Leid, aber ich habe nicht gewusst, dass ich eifersüchtig werden soll«, gab ich ehrlich zu.
»Aber dann ist alles irgendwie aus dem Ruder gelaufen. Ich konnte nichts mehr dagegen tun.«
»Das verstehe ich doch, Sweta. Das ist in Ordnung.«
Verwirrt sah sie mich an.»In Ordnung?«
»Natürlich. Wem würde das nicht mal passieren. Die Wache ist eine große und starke Familie. Mit allen daraus resultierenden Folgen.«
»Was du für ein Vieh bist«, presste sie hervor.»Du solltest dich jetzt mal sehen, Anton! Wie kannst du es wagen, dich noch als einer von uns zu bezeichnen!«
»Sweta, bist du nicht gekommen, um dich zu vertragen?«, fragte ich verwundert.»Also, ich vertrage
mich. Alles ist in Ordnung. Was passiert ist, zählt nicht. Das ist das Leben, da muss man mit allem Möglichen rechnen.«
Sie fuhr hoch und durchbohrte mich kurz mit eisigem Blick. Ich blinzelte rasch und verwirrt.
»Idiot«, knallte sie mir an den Kopf und ging ins Haus.
Was hatte sie denn erwartet? Dass ich beleidigt bin, ihr Vorwürfe mache, traure?
Aber das spielte keine Rolle. Was hatte Geser erwartet? Was würde sich ändern, wenn ich die Rolle des unglücklich in Sweta Verliebten aufgeben würde? Würde diesen Platz jemand anders einnehmen? Oder war es für sie schon an der Zeit, allein zu bleiben - allein mit ihrem großen Schicksal?
Das Ziel. Ich musste Gesers Ziel in Erfahrung bringen.
Mit einem Ruck erhob ich mich vom Liegestuhl und ging ins Haus. Wo ich sofort auf Olga stieß. Sie war allein im Wohnzimmer. Stand vor der offenen Vitrine mit den Schwertern, hielt eine lange schmale Klinge in den ausgestreckten Händen. Sah sie an - nein, so betrachtet man kein antiquarisches Spielzeug. Tigerjunges sah vermutlich mit einem ähnlichen Blick auf ihre Schwerter. Bloß dass für sie die Liebe zu alten Waffen etwas Abstraktes war. Für Olga nicht.
Als Geser nach Russland gekommen war, um hier zu leben und zu arbeiten - übrigens ihretwegen -, mochten solche Schwerter noch in Gebrauch gewesen sein.
Vor achtzig Jahren, als Olga alle Rechte entzogen wurden, kämpfte man schon anders.
Die ehemalige Große Zauberin. Das einstige Große Ziel. Vor achtzig Jahren.
»Was für ein schöner Plan«, sagte ich.
Olga erzitterte und drehte sich um.
»Allein besiegst du das Dunkel nicht. Man muss warten, bis die Menschen aufgeklärter sind. Besser und zärtlicher sind, arbeitsamer und weiser sind. Man muss warten, bis jeder Andere nichts mehr sieht außer dem Licht. Was für ein Ziel! Wie lange die Kreise auseinander laufen mussten, während es im Blut versank.«
»Hast du es also doch herausbekommen?«, sagte Olga.»Oder erraten?«
»Erraten.«
»Gut. Und weiter?«
»Was hast du falsch gemacht, Olga?«
»Ich habe mich auf einen Kompromiss eingelassen. Einen kleinen Kompromiss mit dem Dunkel. Mit dem Ergebnis, dass wir verloren haben.«
»Wir? Wir werden immer mit heiler Haut davonkommen. Uns anpassen, einordnen, einleben. Und den alten Kampf wieder aufnehmen. Verloren haben nur die Menschen.«
»Ab und zu muss man zurückweichen.«Locker umfasste Olga das zweihändige Schwert mit einer Hand und schwang es über dem Kopf.»Seh ich aus wie ein Hubschrauber im Leerlauf?«
»Du siehst aus wie eine Frau, die mit einem Schwert fuchtelt. Haben wir denn wirklich nichts gelernt, Olga?«
»Doch, und wie. Diesmal wird alles anders, Anton.«
»Eine neue Revolution?«
»Wir wollten schon die erste nicht. Alles muss ohne Blutvergießen geschehen. Du verstehst doch: Wir siegen nur durch die Menschen. Indem wir sie aufklären, ihren Geist emporheben. Der Kommunismus war ein hervorragend ausgetüfteltes System, und es ist nur meine Schuld, dass er nicht verwirklicht wurde.«
»Oho! Warum bist du dann noch nicht im Zwielicht, wenn es deine Schuld war?«
»Weil alles abgestimmt war. Jeder Schritt zuvor abgesegnet worden ist. Selbst dieser unglückselige Kompromiss, selbst der schien möglich.«
»Und jetzt startet ein neuer Versuch, die Menschen zu ändern?«
»Der nächste.«
»Warum hier?«, fragte ich.»Warum schon wieder bei uns?«
»Was heißt, bei uns?«
»In Russland. Wie viel soll dieses Land denn noch ertragen?«
»So viel, wie nötig ist.«
»Also warum wieder bei uns?«
Sie seufzte und steckte das Schwert mit leichter Geste in die Scheide. Legte es in die Vitrine zurück.»Weil, mein lieber Junge, es auf diesem Feld noch möglich ist, etwas zu erreichen. Europa, Nordamerika - diese Länder sind bereits abgearbeitet. Was möglich war, wurde ausprobiert. Sicher, einiges versucht man auch heute noch. Aber sie dösen schon vor sich hin, schlafen. Der kräftige Rentner in Shorts mit seiner Videokamera - das sind die wohlhabenden westlichen Länder. Aber experimentieren muss man mit den Jungen. Russland, Asien, die arabische Welt - da muss man heute ansetzen. Und mach nicht so ein empörtes Gesicht, ich liebe meine Heimat nicht weniger als du! Ich habe für sie schon mehr Blut vergossen, als in deinen Adern fließt. Eins musst du verstehen, Antoschka - das Schlachtfeld ist die ganze Welt. Das weißt du schließlich genauso gut wie ich.«
»Wir kämpfen gegen das Dunkel, nicht gegen die Menschen!«
»Ja, gegen das Dunkel. Aber siegen können wir nur, wenn wir eine ideale Gesellschaft aufbauen. Eine Welt, in der Liebe, Güte und Gerechtigkeit herrschen. Die Arbeit der Wachen besteht schließlich nicht darin, psychopathische Magier auf den Straßen einzufangen und Lizenzen an Vampire auszugeben! All diese Kleinigkeiten kosten uns Zeit und Kraft, sind aber zweitrangig, wie die Wärme bei Glühbirnen. Lampen sollen für Helligkeit sorgen, nicht für Wärme. Wir müssen die Menschenwelt ändern, nicht die kleineren Ausgeburten des Dunkels liquidieren. Das ist das Ziel. Das ist der Weg zum Sieg!«