»Das verstehe ich doch, Olga.«
»Gut. Dann solltest du auch begreifen, worüber man nicht offen spricht. Wir kämpfen seit Jahrtausenden. Und die ganze Zeit über versuchen wir, den Lauf der Geschichte in eine völlig neue Bahn zu lenken. Eine neue Welt zu erschaffen.«
»Eine schöne neue Welt.«
»Du brauchst dich nicht darüber lustig zu machen. Einiges haben wir immerhin erreicht. Durch Blut und durch Leid ist die Welt doch humaner geworden. Notwendig ist aber ein richtiger, ein echter Umsturz.«
»Der Kommunismus war unsere Idee?«
»Nicht unsere, aber wir haben sie unterstützt. Sie schien uns einigermaßen attraktiv.«
»Und jetzt?«
»Das wirst du sehen.«Olga lächelte. Freundlich, aufrichtig.»Alles wird gut, Anton. Vertraue mir.«
»Ich muss es wissen.«
»Nein. Genau das ist nicht nötig. Du brauchst dich nicht aufzuregen, eine Revolution ist nicht geplant. Keine Lager, Erschießungen, Schauprozesse. Wir wiederholen die alten Fehler nicht.«
»Dafür werden wir neue machen.«
»Anton!«Sie hob die Stimme.»Was erlaubst du dir eigentlich? Wir haben hervorragende Chancen zu siegen. Für unser Land Frieden, Ruhe, Aufklärung zu erlangen! Uns an die Spitze der Menschheit zu stellen. Das Dunkel zu überwinden. Zwölf Jahre Vorbereitung, Anton. Und nicht nur Geser hat daran gearbeitet, die gesamte obere Führung.«
»Wie bitte?«
»Ja. Hast du denn geglaubt, wir würden einfach drauflos handeln?«
Ich konnte es nicht fassen.»Ihr seid Swetlana seit zwölf Jahren auf der Spur?«
»Natürlich nicht! Wir haben ein neues Gesellschaftsmodell ausgearbeitet. Bestimmte Elemente des Plans erprobt. Selbst ich kenne nicht alle Details. Seit dieser Zeit wartet Geser, dass die Teilnehmer des Plans in Raum und Zeit zusammenkommen.«
»Wer genau? Swetlana und der Inquisitor?«
Kurz verengten sich ihre Pupillen, und ich wusste, dass ich richtig geraten hatte. Teilweise.
»Wer noch? Welche Rolle spiele ich dabei? Und was wirst du tun?«
»Du wirst es zu gegebener Zeit erfahren.«
»Olga, es hat noch nie zu etwas Gutem geführt, wenn man das Leben der Menschen mit Magie verändern wollte.«
»Spar dir deine Axiome aus der Schule.«Sie war wirklich aufgebracht.»Glaub nicht, dass du klüger bist als andere. Wir haben nicht vor, Magie anzuwenden. Du kannst dich also beruhigen und entspannen.«
Ich nickte.»Gut. Du hast mir deine Position dargelegt, ich kann mich ihr nicht anschließen.«
»Offiziell?«
»Nein. Im privaten Rahmen. Und als Privatperson habe ich das Recht, Widerstand zu leisten.«
»Gegen wen? Gegen Geser?«Olga riss die Augen auf, verzog die Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln.»Anton!«
Ich drehte mich um und ging.
Ja, es war komisch.
Ja, es war absurd.
Nicht nur einfach eine konfuse Aktion, die Geser und Olga da durchführten. Nicht nur der Versuch, das gescheiterte Gesellschaftsexperiment zu wiederholen. Diese seit langem geplante, gut vorbereitete Operation, in die ich unglücklicherweise hineingeraten war.
Gebilligt von der obersten Führung.
Gebilligt vom Licht.
Warum regte ich mich da auf? Dazu hatte ich einfach kein Recht. Nicht das geringste. Und keine Aussichten. Absolut keine. Man könnte sich mit der Weisheit vom
Sandkorn in einem Uhrwerk trösten, aber im Moment war ich eher ein Sandkorn zwischen zwei Mühlsteinen.
Und, was das Traurigste ist, zwischen freundlichen und sorgsamen Mühlsteinen. Niemand wird mich verfolgen. Niemand wird gegen mich kämpfen. Sondern mich bloß daran hindern, Dummheiten zu machen, aus denen ohnehin nichts Gescheites erwachsen würde. Niemals.
Warum tut es dann so weh, warum sitzt in meiner Brust dieser unerträgliche Schmerz?
Ich stand auf der Terrasse, presste in hilflosem Zorn die Fäuste zusammen, als sich mir eine Hand auf die Schulter legte.
»Offenbar hast du etwas herausgekriegt, Anton?«
Ich sah Semjon an und nickte.
»Schlimm?«
»Ja«, gestand ich.
»Bitte verstehe eins. Du bist kein Sandkorn. Kein Mensch ist ein Sandkorn. Und erst recht kein Anderer.«
»Wie lange muss man leben, um die Gedanken so genau erraten zu können?«
»An die hundert Jahre, Anton.«
»Dann kann Geser die Gedanken von jedem von uns lesen wie ein offenes Buch.«
»Natürlich.«
»Dann muss ich wohl das Denken verlernen«, sagte ich.
»Zunächst mal muss man es lernen. Du weißt, dass es in der Stadt einen Zwischenfall gegeben hat?«
»Wann?«
»Vor einer Viertelstunde. Es ist schon alles wieder vorbei.«
»Was ist passiert?«
»Der Chef hat einen Kurier empfangen, einen aus dem Orient. Die Dunklen haben versucht, ihn aufzuspüren und zu vernichten. Unter den Augen des Chefs.«Semjon grinste.
»Das bedeutet Krieg!«
»Nein, sie hatten das Recht dazu. Der Kurier ist illegal eingereist.«
Ich schaute mich um. Niemand rannte herum. Niemand ließ ein Auto an, niemand raffte seine Sachen zusammen. Ignat und Ilja heizten den Grill schon wieder an.
»Müssen wir denn nicht zurück?«
»Nein. Der Chef ist allein damit fertig geworden. Es gab einen kleinen Kampf, jedoch ohne Opfer. Der Kurier wurde in die Wache aufgenommen, und die Dunklen waren gezwungen, wieder abzuziehen. Nur das Restaurant hat ein wenig gelitten.«
»Was für ein Restaurant?«
»In dem sich der Chef mit dem Kurier getroffen hat«, erklärte Semjon geduldig.»Wir brauchen unsern Urlaub nicht abzubrechen.«
Ich sah in den Himmel - er war blendend blau, von Hitze satt.
»Eigentlich will ich nicht länger ausspannen. Ich fahre nach Moskau zurück. Ich glaube nicht, dass mir das jemand übel nimmt.«
»Natürlich nicht.«
Semjon holte seine Zigaretten heraus und zündete sich eine an.»An deiner Stelle würde ich versuchen herauszufinden«, bemerkte er beiläufig,»was genau der Kurier aus dem Orient mitgebracht hat. Vielleicht ist das deine Chance.«
Ich lachte bitter auf.»Die Dunklen konnten das nicht in Erfahrung bringen, und du schlägst mir vor, den Safe vom Chef zu knacken?«
»Die Dunklen konnten es nicht an sich bringen. Was auch immer es ist. Du hast natürlich kein Recht, die Ware an dich zu nehmen oder auch nur anzufassen. Aber herauszubekommen…«
»Danke. Ganz ehrlich, danke.«
Semjon nickte, nahm ohne falsche Bescheidenheit meinen Dank an.»Im Zwielicht werden wir quitt. Ja, weißt du, mir reicht es auch. Nach dem Essen leihe ich mir das Motorrad von Tigerjunges und fahre in die Stadt. Kommst du mit?«
»Hm.«
Es war mir peinlich. Wahrscheinlich kann diese Art von Scham nur ein Anderer in vollem Ausmaß empfinden. Wir begreifen stets, wenn man uns entgegenkommt, wenn man uns unverdiente Geschenke macht, die zurückzuweisen es uns an Kraft mangelt.
Ich konnte nicht länger hier bleiben. Auf gar keinen Fall. Sweta sehen, Olga, Ignat. Ihre Wahrheit hören.
Meine Wahrheit würde ich niemals aufgeben.
»Kannst du Motorrad fahren?«, fragte ich, das Gespräch ungeschickt in eine andere Richtung lenkend.
»Ich habe an der ersten Rallye Paris-Dakar teilgenommen. Jetzt lass uns den Jungs helfen.«
Finster sah ich Ignat an, der Brennholz schlug. Das Beil handhabte er virtuos. Nach jedem Schlag verharrte er einen Moment, bedachte die Umstehenden mit einem flüchtigen Blick und ließ die Muskeln spielen.