»Guten Tag, Anton. Weißt du, ich wäre froh, wenn ich dein Chef wäre.«
Er lächelte, der Dunkle Magier außerhalb jeder Kategorie, das Oberhaupt der Tagwache Moskaus. Wie immer trug er einen tadellos sitzenden schwarzen Anzug und ein hellgraues Hemd. Dieser magere, kurzhaarige Andere unbestimmbaren Alters.
»Ich habe mich halt geirrt«, sagte ich.»Was machst du hier?«
Sebulon zuckte mit den Schultern.»Nimm das Amulett. Es liegt irgendwo im Schreibtisch, das spüre ich.«
Ich ging zum Schreibtisch, zog die Schublade auf und holte das beinerne Amulett an der Kupferkette heraus. Sobald ich meine Faust darum ballte, spürte ich, wie das Amulett sich erwärmte.
»Sebulon, du hast keine Macht über mich.«
»Gut«, meinte der Dunkle Magier nickend.»Ich will
nicht, dass du Zweifel an deiner eigenen Sicherheit hegst.«
»Was machst du im Haus eines Lichten, Sebulon? Das gibt mir das Recht, dich vor das Tribunal zu bringen.«
»Ich weiß.«Sebulon breitete die Arme aus.»Ich weiß das alles. Ich bin nicht im Recht. Bin dumm. Reite mich und die Tagwache in sonst was rein. Aber ich bin nicht als Feind zu dir gekommen.«
Ich hüllte mich in Schweigen.
»Ja, wegen der Überwachungsanlagen brauchst du dir keine Gedanken machen«, meinte Sebulon lässig.»Weder um eure noch um die der Inquisition. Ich habe mir erlaubt, sie, sagen wir, ruhig zu stellen. Alles, was wir miteinander besprechen, bleibt für immer unter uns.«
»Trau einem Menschen zur Hälfte, einem Lichten zu einem Viertel und einem Dunklen überhaupt nicht«, knurrte ich.
»Natürlich. Du hast Recht, mir nicht zu trauen. Musst das sogar! Aber ich bitte dich, mich anzuhören.«Unversehens lächelte Sebulon, und zwar erstaunlich offen und friedfertig.»Du bist doch ein Lichter. Du bist verpflichtet zu helfen. Allen, die dich darum bitten, selbst mir. Und ich bitte dich darum.«
Zögernd ging ich zu dem kleinen Sofa und setzte mich. Ohne mir die Schuhe auszuziehen, ohne den in der Schwebe befindlichen»Freeze«auszuheben - als sei die Vorstellung, mit Sebulon zu kämpfen, nicht absolut lächerlich.
Ein Fremder in der eigenen Wohnung. My home is my castle - in den Jahren meiner Arbeit für die Wache hatte ich fast begonnen, an diese Worte zu glauben.
»Als Erstes - wie bist du hier hereingekommen?«, fragte ich.
»Als Erstes habe ich einen ganz gewöhnlichen Dietrich genommen, aber…«
»Sebulon, du weißt ganz genau, was ich meine. Die Signalbarriere kann man zerstören, aber nicht täuschen. Sie hätte losgehen müssen, sobald jemand Fremdes eindringt.«
Der Dunkle Magier seufzte.»Kostja hat mir geholfen, hier reinzukommen. Du hast ihm doch die Erlaubnis erteilt, deine Wohnung zu betreten.«
»Ich hatte gedacht, er sei mein Freund. Auch wenn er ein Vampir ist.«
»Aber er ist dein Freund.«Sebulon lächelte.»Und will dir helfen.«
»Auf seine Art.«
»Auf unsere Art. Anton, ich bin in deine Wohnung gekommen, aber ich will dir keinen Schaden zufügen. Ich habe mir keine Arbeitsunterlagen angeschaut, die du hier aufbewahrst. Habe keine Zeichen hinterlassen, um hier etwas zu observieren. Ich bin gekommen, um mit dir zu reden.«
»Dann sprich.«
»Wir beide haben ein Problem, Anton. Dasselbe Problem. Und heute hat es kritische Ausmaße angenommen.«
Schon als ich Sebulon erblickt hatte, war mir klar gewesen, worauf unser Gespräch hinauslaufen würde. Darum nickte ich nur.
»Gut, du verstehst das.«Der Dunkle Magier rückte ein wenig vor, seufzte.»Ich mache mir keine falschen Hoffnungen, Anton. Wir sehen die Welt auf unterschiedliche Weise. Und verstehen unter der eigenen Pflicht nicht dasselbe. Doch selbst in einer solchen Situation kann es Schnittpunkte geben. Uns, den Dunklen, kann man aus eurer Sicht einiges vorwerfen. Wir verhalten uns nicht immer ganz eindeutig. Den Menschen begegnen wir, wenn auch gezwungenermaßen, aufgrund unserer Natur, weniger aufmerksam. Ja, all das stimmt. Aber niemand, merk dir das, niemand hat uns jemals vorgeworfen, wir würden versuchen, das Schicksal der Menschheit durch eine globale Intervention zu verändern! Nach Abschluss des Großen Vertrages haben wir unser Leben gelebt und wollten, dass ihr es genauso handhabt.«
»Niemand wirft euch das vor«, gab ich zu.»Denn die Zeit, so merkwürdig das auch anmutet, arbeitet für euch.«
Sebulon nickte.»Und was heißt das? Vielleicht, dass wir den Menschen näher sind? Vielleicht, dass wir Recht haben? Doch lassen wir diesen Streit, der nimmt nie ein Ende. Ich wiederhole, was ich schon einmal gesagt habe: Wir achten den Vertrag. Und halten uns teilweise weit genauer an ihn als die Kräfte des Lichts.«
Die übliche Taktik bei einem Streit. Zunächst erkennt man irgendeine allgemeine Schuld an. Dann wirft man dem Gegenüber andeutungsweise eine ähnlich allgemeine Sünde vor. Liest ihm die Leviten und winkt gleich ab - vergessen wir das.
Und erst danach wechselt man zum eigentlichen Anliegen über.
»Lass uns jetzt aber zum Wesentlichen kommen.«Sebulon wurde ernst.»Was sollen wir lange drum herumreden. Im letzten Jahrhundert haben die Kräfte des Lichts drei globale Experimente durchgeführt. Die Revolution in Russland. Den Zweiten Weltkrieg. Und jetzt wieder. Immer nach dem gleichen Szenario.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte ich. In der Brust meldete sich ein wehmütiger Schmerz.
»Wirklich nicht? Ich werde es dir erklären. Es sind Modelle ausgearbeitet worden, die - wenn auch nur durch außergewöhnliche Erschütterungen und enormes Blutvergießen - die Menschheit oder einen beachtlichen Teil von ihr zu einer idealen Gesellschaft führen sollten. Ideal aus eurer Sicht, aber dagegen sage ich ja gar nichts! Bestimmt nicht. Jeder hat sein Recht auf seinen Traum. Aber euer Weg ist sehr grausam…«Erneut dieses traurige Lächeln.»Ihr werft uns Grausamkeit vor, und zu Recht. Aber was ist ein bei einer schwarzen Messe geopfertes Kind im Vergleich zu einem ganz gewöhnlichen faschistischen Konzentrationslager für Kinder? Und der Faschismus ist schließlich ebenfalls euer Werk. Das euch außer Kontrolle geraten ist. Erst der Internationalismus und der Kommunismus - die nicht funktioniert haben. Dann der Nationalsozialismus. Auch ein Fehler? Ihr habt das alles zusammengemixt und dann geschaut, was dabei herauskommt. Habt geseufzt, alles weggewischt und euch jetzt an ein neues Experiment gewagt.«
»Die Fehler gehen auf eure Anstrengungen zurück.«
»Natürlich! Schließlich funktioniert unser Selbsterhaltungsinstinkt! Wir entwickeln keine Gesellschaftsmodelle auf der Grundlage unserer Ethik. Warum sollten wir da also eure Projekte zulassen?«
Ich hüllte mich in Schweigen.
Sebulon nickte, offenkundig zufrieden.»So sieht’s aus, Anton. Wir könnten Feinde sein. Wir sind es sogar. Im Winter bist du uns in die Quere gekommen, und zwar gewaltig. Im Frühling hast du dich mir abermals entgegengestellt. Zwei Mitarbeiter der Tagwache vernichtet. Gewiss, die Inquisition hat anerkannt, dass du aus Notwehr gehandelt hast, dass du das tun musstest, aber glaube mir - mich hat das nicht gut aussehen lassen. Was ist das für ein Oberhaupt, wenn er die eigenen Mitarbeiter nicht schützen kann? Daher sind wir Feinde. Doch jetzt stehen wir vor einer einmaligen Situation. Ein neues Experiment. Und du bist darin indirekt involviert.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
Sebulon lachte auf. Hob die Hand.»Anton, ich will dich nicht austricksen. Stelle dir keine Fragen. Werde dich auch um nichts bitten. Hör dir einfach meine Geschichte an. Dann gehe ich.«