Und plötzlich fiel mir ein, wie Alissa im Winter auf dem Dach des Hochhauses ihr Recht auf eine Intervention genutzt hatte. Eine kleine nur, mit der sie mir nur erlaubt hatte, die Wahrheit zu sagen. Und diese Wahrheit hat den Jungen Jegor auf die Seite des Dunkels getrieben.
Warum funktioniert das?
Warum handelt das Licht durch die Lüge und das Dunkel durch die Wahrheit? Warum ist unsere Wahrheit hilflos, während die Lüge sich als effektiv erweist? Und warum kann das Dunkel sich die Wahrheit so hervorragend zunutze machen, um Böses zu schaffen? An wessen Natur liegt das, an der menschlichen oder an
unserer?
»Swetlana ist eine vorzügliche Zauberin«, sagte Se-bulon.»Aber ihre Zukunft liegt nicht in der Leitung der Nachtwache. Sie brauchen sie nur für ein einziges Ziel. Für die Mission, die Olga nicht erfolgreich abgeschlossen hat. Du weißt, dass heute Morgen ein Kurier aus Samarkand in Moskau aufgetaucht ist?«
»Ich weiß«, gab ich aus irgendeinem Grund zu.
»Ich kann dir sagen, was er gebracht hat. Das möchtest du doch wissen?«
Ich presste die Zähne aufeinander.
»Das willst du.«Sebulon nickte.»Der Kurier hat ein Stück Kreide gebracht.«
Einem Dunklen darf man niemals glauben. Dennoch hatte ich nicht den Eindruck, dass er log.
»Ein kleines Stück Kreide.«Der Dunkle Magier lächelte.»Mit dem man etwas auf eine Tafel in der Schule schreiben kann. Oder Himmel-und-Hölle auf den Asphalt malen. Oder die Queues beim Billard einreiben. Das alles geht so leicht, wie mit dem großen königlichen Siegel Nüsse zu knacken. Wenn jedoch eine Große Zauberin dieses Stück Kreide in die Hand nimmt… Und zwar unbedingt eine Große, bei einer einfachen reichen die Kräfte nicht. Und unbedingt eine Zauberin, in männlichen Händen bleibt die Kreide bloß ein einfaches Stück Kreide. Außerdem muss diese Zauberin eine Lichte sein. Für das Dunkel ist dieses Artefakt nutzlos.«
Täuschte ich mich oder seufzte er? Ich schwieg weiter.
»Ein kleines Stück Kreide.«Sebulon lehnte sich im Sessel nach hinten, wiegte sich vor und zurück.»Es ist schon abgenutzt, denn es lag mehr als einmal in den zarten Fingern von schönen Frauen, in deren Augen ein lichtes Feuer brannte. Sie haben es benutzt, und die Erde erbebte, Staatsgrenzen verschwanden, Imperien stiegen auf, Hirten wurden zu Propheten, Zimmerleute zu Göttern, Findelkinder als Könige anerkannt, Sergeanten schwangen sich zu Imperatoren auf, gescheiterte Seminaristen und talentlose Künstler zu Tyrannen. Ein kleiner Stummel Kreide. Mehr nicht.«
Sebulon erhob sich. Breitete die Arme aus.»Das ist alles, mein teurer Feind, was ich sagen wollte. Den Rest kannst du dir selbst denken, natürlich nur, sofern du willst.«
»Sebulon.«Ich öffnete die Faust und schaute auf das Amulett.»Du bist eine Ausgeburt des Dunkels.«
»Gewiss. Aber immerhin von jenem Dunkel, das in mir war. Von jenem, das ich selbst gewählt habe.«
»Selbst deine Wahrheit bringt das Böse mit sich.«
»Für wen? Für die Nachtwache? Mit Sicherheit. Für die Menschen? Da gestatte mir, Widerspruch anzumelden.«
Er ging zur Tür.
»Sebulon«, sprach ich ihn noch einmal an.»Ich habe deine wahre Gestalt gesehen. Ich weiß, wer und was du bist.«
Der Dunkle Magier blieb wie angewurzelt stehen. Dann drehte er sich langsam um, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht - einen Moment lang verzerrte es sich, schimmerten anstelle der Haut trübe Schuppen, verengten sich die Augen zu schmalen Schlitzen.
Der Dunst verzog sich.
»Ja, natürlich. Du hast es gesehen.«Sebulon hatte sein menschliches Äußeres zurückerlangt.»Und ich habe dich gesehen. Und auch du, wenn ich das bemerken darf, warst kein weißer Engel mit funkelndem Schwert. Alles hängt davon ab, von wo aus man blickt. Lebe wohl, Anton. Glaube mir, irgendwann wird es mir ein Vergnügen sein, dich zu vernichten. Aber jetzt wünsche ich dir Glück. Von ganzer Seele, die ich selbstverständlich nicht habe.«
Die Tür fiel hinter ihm zu.
Genau in diesem Moment, gleichsam als erwachte es plötzlich, heulte aus dem Zwielicht das Alarmzeichen auf. Die Maske des Choyong an der Wand verzog den Mund, in den Holzritzen der Augen blitzte Zorn auf, er bleckte die Zähne.
Diese kleinen Wachposten…
Mit zwei Handbewegungen brachte ich das Zeichen zum Schweigen, während ich auf die Maske den aufgesparten»Freeze«abfeuerte. Konnte ich den Zauber also doch noch gebrauchen.
»Ein Stück Kreide«, sagte ich.
Irgendetwas hatte ich darüber gehört. Allerdings vor langer Zeit, nur mit halbem Ohr. Vielleicht ein paar Sätze, von einem Lehrer im Unterricht fallen gelassen, irgendein Gequatsche von Freunden oder ein Märchen, aufgeschnappt in einem der Kurse. Eben über ein Stück Kreide…
Ich stand vom Sofa auf und hob die Hand. Warf das Amulett auf den Boden.
»Geser!«, schrie ich durchs Zwielicht. »Geser, antworte mir!«
Der Schatten hechtete vom Boden auf mich zu,
klammerte sich an meinen Körper, saugte ihn auf. Das Licht trübte sich, das Zimmer verschwamm, die Konturen der Möbel zerflossen. Es wurde unerträglich leise. Die Hitze wich. Ich stand da, breitete die Arme aus, und das gierige Zwielicht trank meine Kräfte.
»Geser, ich rufe dich bei deinem Namen!«
Graue Nebelfäden waberten durch den Raum. Ich scherte mich einen Dreck darum, wer meinen Schrei womöglich noch hörte.
»Geser, mein Mentor, ich rufe dich - antworte!«
In weiter Ferne seufzte ein unsichtbarer Schatten.»Ich höre dich, Anton.«
»Antworte!«
»Worauf möchtest du eine Antwort?«
»Sebulon hat nicht gelogen, oder?«
»Nein.«
»Geser, halte ein!«
»Es ist zu spät, Anton. Alles läuft bereits so, wie es laufen muss. Vertrau mir.«
»Geser, halte ein!«
»Du hast kein Recht, irgendetwas zu fordern.«
»Doch! Wenn wir ein Teil des Lichts sind, wenn wir Gutes bringen, dann habe ich das Recht.«
Er verstummte. Ich überlegte schon, ob der Chef überhaupt noch einmal mit mir sprechen würde.
»Gut. Ich erwarte dich in einer Stunde in der Springerbar.«
»Wo? Wo bitte?«
»In der Bar der Fallschirmspringer. Metro Turgenjewskaja. Hinter der ehemaligen Hauptpost.«
Stille senkte sich herab.
Ich trat einen Schritt zurück, tauchte dann aus dem Zwielicht auf. Ein origineller Ort für ein Treffen. Hatte Geser dort die Tagwache fertig gemacht? Nein, das war ja irgendein Restaurant.
Egal, die Springerbar, die Rose oder das Chance. Was spielte das für eine Rolle? Ob nun Fallschirmspringer, Yuppies oder Schwule.
Eine andere Sache musste ich vor dem Treffen mit Geser aber unbedingt noch herausbekommen.
Ich langte nach meinem Handy und wählte Swetla-nas Nummer. Sie ging sofort ran.
»Hallo«, sagte ich bloß.»Bist du immer noch auf der Datsche?«
»Nein.«Anscheinend irritierte sie der geschäftliche Ton.»Ich fahre in die Stadt zurück.«
»Mit wem?«
Sie zögerte.»Mit Ignat.«
»Gut«, sagte ich aufrichtig.»Hör mal, weißt du irgendwas über Kreide?«
»Worüber?«Jetzt war ihre Verwirrung offenkundig.
»Über die magischen Eigenschaften von Kreide. Hat dir niemand beigebracht, wie man sie in der Magie anwendet?«
»Nein. Ist mit dir alles in Ordnung, Anton?«
»Mehr als das.«