»Dir ist nichts passiert?«
Typisch Frau: Jede Frage stellen sie in zwei, drei Varianten.
»Nichts Besonderes.«
»Willst du…«Sie stockte.»Willst du, dass ich Olga danach frage?«
»Ist sie auch bei euch?«
»Ja, wir fahren zu dritt in die Stadt.«
»Das ist wohl nicht nötig. Danke.«
»Anton…«
»Was ist, Sweta?«
Ich ging zum Schreibtisch, zog die Schublade mit allerlei magischem Plunder heraus. Betrachtete trübe Kristalle, einen ungeschickt geschnitzten Zauberstab - damals wollte ich noch Kampfmagier werden. Dann schob ich die Lade wieder zu.
»Verzeih mir.«
»Es gibt nichts, was ich dir verzeihen müsste.«
»Kann ich vielleicht zu dir kommen?«
»Seit ihr noch weit weg?«
»Auf halber Strecke.«
Ich schüttelte den Kopf.»Das klappt nicht«, meinte ich.»Ich habe einen wichtigen Termin. Ich ruf dich später noch mal an.«
Ich beendete das Gespräch und lächelte. Die Wahrheit kann in vielen Fällen böse und verlogen sein. Zum Beispiel, wenn man nur die halbe Wahrheit sagt. Sagt, dass man nicht reden möchte, und nicht erklärt, warum.
Möge es mir gelingen, Gutes durch das Böse zu schaffen. Denn etwas anderes steht mir momentan nicht zu Gebote.
Vorsichtshalber inspizierte ich noch die Wohnung, sah ins Schlafzimmer, in die Toilette, ins Bad und in
die Küche hinein. Soweit ich spüren konnte, hatte mir Sebulon in der Tat keine»Geschenke«dagelassen.
Wieder im Arbeitszimmer, schloss ich den Laptop an und legte eine Diskette mit einer Datenbank zur Magie ein. Ich gab das Passwort ein. Und klickte das Wort»Kreide«an.
Ich rechnete eigentlich nicht damit, dass das etwas brachte. Das, was ich wissen wollte, dürfte so schwer zugänglich sein, dass es niemals in einer einfachen Datei auftauchte.
Es gab drei Einträge zu»Kreide«.
Im ersten Fall ging es um eine Kreidegrube, in der im 15. Jahrhundert ein Duell zwischen einem Lichten und einem Dunklen Magier ersten Grades stattfand. Beide kamen um, starben schlicht an Kräfteverschleiß, da sie es am Ende des Kampfes nicht mehr aus dem Zwielicht herausschafften. In den nächsten fünfhundert Jahren starben in diesem Gebiet an die dreitausend Menschen.
Der zweite Fall betraf die Verwendung von Kreide beim Erstellen von magischen Zeichen und Verteidigungskreisen. Hier fanden sich ausführlichere Informationen, die ich rasch überflog. Nichts Besonderes. Die Verwendung von Kreide bietet keine nennenswerten Vorteile gegenüber Kohle, Bleistift, Blut oder Ölfarbe. Höchstens, dass sie sich am leichtesten wegwischen lässt.
Die dritte Erwähnung fand sich im Abschnitt über»Mythen und unbestätigte Fakten«. Hier gab es natürlich allerlei Unsinn, wie beispielsweise die Anwendung von Silber und Knoblauch im Kampf gegen Vampire oder die Beschreibung nicht existierender Bräuche und Rituale.
Aber ich hatte es schon erlebt, dass ich unter»Mythen«auf authentische, aber längst vergessene Ereignisse stieß.
Die Kreide wurde im Artikel über die»Schicksalsbücher«erwähnt.
Nachdem ich die Hälfte gelesen hatte, begriff ich, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Die Informationen wurden ganz offen gegeben, klar präsentiert, waren jedem beginnenden Magier zugänglich und fanden sich möglicherweise sogar in Quellen, die Menschen konsultieren konnten.
Die Schicksalsbücher. Kreide.
Alles passte.
Ich schloss die Datei, schaltete das Notebook aus. Blieb sitzen und biss mir auf die Lippen. Schaute auf die Uhr.
Allmählich musste ich mich für mein seltsames Rendezvous fertig machen.
Ich duschte und zog mir frische Sachen an. Von den Amuletten nahm ich nur das Medaillon Sebulons mit, das Zeichen der Nachtwache und eine Kampfscheibe, die mir Ilja irgendwann mal geschenkt hatte - ein altes Bronzeplättchen, nicht viel größer als eine Fünfrubelmünze. Die Scheibe hatte ich noch nie verwendet. Wie der Magier gesagt hatte, war im Amulett noch eine Ladung, wenn es hochkam, zwei.
Aus dem Versteck holte ich die Pistole. Überprüfte das Magazin. Dumdumgeschosse aus Silber. Gut gegen Tiermenschen, zweifelhaft gegen Vampire, durchaus wirksam gegen Dunkle Magier.
Als ob ich in den Kampf ziehen würde, nicht aber zu einem Gespräch mit dem Vorgesetzten.
Ich stand schon an der Tür, als das Handy in meiner Tasche klingelte.
»Anton?«
»Sweta?«
»Olga möchte mit dir reden, ich gebe sie dir.«
»Ja«, sagte ich und schloss auf.
»Anton, ich liebe dich sehr. Mach bitte keine Dummheiten.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Olga nahm das Handy.
»Anton. Ich möchte, dass du eins weißt: Alles ist bereits entschieden. Und alles wird sehr bald passieren.«
»Heute Nacht«, vermutete ich.
»Woher weißt du das?«
»Ich spüre es. Ich spüre es einfach. Deshalb ist die Wache auch aus der Stadt geschickt worden, nicht wahr? Und bei Swetlana habt ihr für die nötige Gemütsverfassung gesorgt.«
»Was du alles weißt.«
»Das Schicksalsbuch. Die Kreide. Ich habe alles durchschaut.«
»Zu spät«, antwortete Olga knapp.»Anton, du musst…«
»Ich muss überhaupt nichts. Ich schulde niemandem etwas. Außer dem Licht in mir.«
Ich beendete das Gespräch, schaltete das Mobiltelefon aus. Es reichte. Geser konnte sich auch so mit mir in Verbindung setzen, ohne jedes technische Mittel. Olga würde weiter versuchen, mich zu überreden. Swetlana verstand sowieso nicht, was ich warum tat.
Wenn du beschlossen hast, den Weg bis zu Ende zu gehen, dann geh allein. Und verlange von niemandem, dich zu begleiten.
»Setz dich, Anton«, sagte Geser.
Die Bar hatte sich als winzig erwiesen. Sechs, sieben Tische, voneinander abgetrennt. Ein Bartresen. Alles voller Rauch. Der Fernseher lief ohne Ton, zeigte in einem fort Sprünge. Bei den Fotos an den Wänden das Gleiche - im Flug ausgestreckte Körper in grellen Overalls. Wenig Besucher, was möglicherweise an der Zeit lag: zu spät fürs Mittagessen, viel zu früh für den Abendbetrieb. Ich hatte meinen Blick über die Tische wandern lassen und in einer Ecke Boris Ignatjewitsch entdeckt.
Der Chef war nicht allein. Er saß vor einer Schale mit Obst und riss träge von einer Traube Beeren ab. Etwas abseits von ihm saß ein groß gewachsener dunkelhäutiger Mann mit verschränkten Armen. Unsere Blicke begegneten sich, und ich spürte einen sanften, aber deutlichen Druck.
Ebenfalls ein Anderer.
Etwa fünf Sekunden lang sahen wir einander an, wobei wir den Druck nach und nach verstärkten. Fähigkeiten hatte er, ordentliche Fähigkeiten, aber zu wenig Erfahrung. Irgendwann nahm ich den Widerstand etwas zurück und entzog mich seiner Sondierung, um - noch bevor der junge Mann seine Verteidigung aufbauen konnte - ihn zu scannen.
Ein Anderer. Ein Lichter. Vierter Grad.
Das Gesicht des Mannes verzerrte sich, als durchschössen ihn Schmerzen. Sah Geser mit dem Blick eines geschlagenen Hundes an.
»Wenn ich euch vorstellen darf«, meinte Geser.»Anton Gorodezki, Anderer, von der Nachtwache Moskaus. Alischer Ganijew, Anderer, seit kurzem bei der Nachtwache Moskaus.«
Der Kurier.
Ich streckte ihm die Hand entgegen und ließ meine Verteidigung fallen.
»Ein Lichter, zweiter Grad«, konstatierte Alischer, während er mir in die Augen sah. Sich verbeugte.
Ich schüttelte den Kopf.»Dritter«, korrigierte ich.
Der Mann blickte abermals zu Geser. Diesmal nicht schuldbewusst, sondern verwundert.