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»Zweiter«, bekräftigte der Chef.»Du bist in Hochform, Anton. Das freut mich sehr für dich. Setz dich, reden wir. Alischer, pass auf.«

Ich setzte mich dem Chef gegenüber.

»Weißt du, warum ich mich unbedingt hier mit dir treffen wollte?«, fragte der Chef.»Nimm dir von den Weintrauben, sie sind lecker.«

»Woher soll ich das wissen? Vielleicht weil es hier die leckersten Weintrauben in Moskau gibt.«

Geser lachte.»Bravo. Wenn es auch nicht das Wichtigste ist. Die Trauben haben wir auf dem Markt gekauft.«

»Dann wohl, weil es hier nett ist.«

Der Chef zuckte mit den Schultern.»Es ist nichts Besonderes. Ein kleiner Raum, wenn du durch die Tür gehst, kommst du zu einem Billardpool und zu noch

ein paar anderen Tischen.«

»Sie sind ein heimlicher Fallschirmspringer, Chef.«

»Ich bin seit zwanzig Jahren nicht gesprungen«, gab Geser gelassen zurück.»Anton, mein Lieber, ich bin hierher gekommen, habe Kartoffeln mit Bœuf Stroganoff gegessen und zum Nachtisch Weintrauben verputzt, nur damit ich dir ein Mikromilieu zeigen kann. Eine kleine, eine winzige Gesellschaft. Jetzt entspann dich, setz dich! Alischer, ein Bier für Anton! Schau dich um, Soldat. Sieh dir die Gesichter an. Hör dir das Palaver an. Atme ihre Luft ein.«

Ich wandte mich vom Chef ab. Rückte an den Rand der Holzbank, um wenigstens ein bisschen was von meiner Umgebung mitzubekommen. Alischer stand bereits an der Bar und wartete auf mein Bier.

Sie hatten seltsame Gesichter, die Stammkunden der Springerbar. Etwas Unbestimmtes schienen sie alle gemeinsam zu haben. Besondere Augen oder besondere Gesten. Nein, nichts Besonderes, nur schien jeder einen unsichtbaren Stempel zu tragen.

»Ein Kollektiv«, sagte der Chef.»Ein Mikromilieu. Ich hätte dieses Gespräch auch im Schwulenclub Chance, im Restaurant im Zentralen Haus der Literaturschaffenden oder in irgendeinem Imbiss mit Weinverkauf direkt neben einem Betrieb ansetzen können. Das spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass sich dort ein kleines, nach außen abgeschottetes Kollektiv trifft. Das sich mehr oder weniger stark von der Gesellschaft isoliert. Kein McDonald’s, kein elegantes Restaurant, sondern ein offener oder intimer Club. Weißt du, warum? Das sind wir. Es ist ein Modell unserer Wache.«

Ich schwieg. Beobachtete, wie ein junger Mann auf Krücken an den Nachbartisch ging, auf den angebotenen Platz verzichtete und, gegen die Zwischenwand gelehnt, anfing, etwas zu erzählen. Die Musik übertönte seine Worte, aber den groben Sinn konnte ich durchs Zwielicht herausfiltern. Der Fallschirm, der sich nicht öffnete und den er abwerfen musste. Die Landung mit dem Reserveschirm. Ein Bruch. Und, was für ein Mist, ein halbes Jahr keine Sprünge!

»Die Gesellschaft hier ist sehr charakteristisch«, fuhr der Chef ruhig fort.»Das Risiko. Die starken Eindrücke. Die Umwelt, die mit Unverständnis reagiert. Der Slang. Probleme, die normale Menschen absolut nicht verstehen. Und, nebenbei bemerkt, regelmäßige Verletzungen und Todesfälle. Gefällt es dir hier?«

Ich dachte kurz nach, dann antwortete ich:»Nein. Hier muss man dazugehören. Oder wegbleiben.«

»Natürlich. Bei jedem Mikromilieu ist es nur beim ersten Mal spannend hineinzugucken. Danach musst du entweder seine Gesetze übernehmen und in die kleine Gemeinschaft eingehen oder dich von ihr distanzieren. In diesem Punkt unterscheiden wir uns absolut nicht von ihnen. Was an unserm Wesen liegt. Jeder Andere, den wir finden und der seine Anlagen erkennt, steht vor der Wahl. Entweder tritt er in die Wache seiner Seite ein, wird ein Soldat, ein Kämpfer, und wird unweigerlich ein Todeskandidat. Oder er führt sein nahezu menschliches Leben weitgehend fort, entwickelt seine magischen Fähigkeiten nicht wirklich, nutzt ab und an den Vorteil eines Anderen, bekommt aber auch die Nachteile eines solchen Lebens in vollem Maße zu spüren. Das Unangenehmste ist, wenn er bei der ursprünglichen Wahl eine falsche Entscheidung getroffen hat. Ein Anderer will aus diesem oder jenem Grund die Gesetze der Wache nicht annehmen. Aber es ist fast unmöglich, aus unseren Strukturen auszusteigen. Sag mir mal, Anton, könntest du außerhalb der Wache existieren?«

Selbstverständlich stellt der Chef nie theoretische Fragen.

»Vermutlich nicht«, räumte ich ein.»Es würde mir schwer fallen, wäre praktisch unmöglich, mich innerhalb der Grenzen zu bewegen, die einem einfachen Lichten Magier gesetzt sind.«

»Denn wenn du nicht in die Wache kommst, kannst du deine magischen Manipulationen nicht mit dem Kampf gegen das Dunkel rechtfertigen. So ist es doch?«

»Ja.«

»Das macht die Sache derart kompliziert, Anton, darin liegt das ganze Unglück.«Der Chef seufzte.»Alischer, steh nicht wie angewurzelt da.«

Er behandelte den Burschen wirklich mies. Doch die Gründe dafür schienen mir auf der Hand zu liegen: Der Kurier hatte auf Biegen und Brechen einen Platz in der Moskauer Wache haben wollen und erlebte nun die unvermeidlichen Folgen.

»Ihr Bier, Lichter Anton.«Mit einem angedeuteten Nicken stellte der Mann das Glas vor mich hin.

Schweigend langte ich danach. Ihn traf keine Schuld, diesen jungen und talentierten Magier. Sicherlich könnten wir Freunde werden. Aber momentan grollte ich selbst ihm: Alischer hatte nach Moskau gebracht, was Swetlana und mich für immer trennen würde.

»Was sollen wir machen, Anton?«, fragte der Chef.

»Worin besteht denn eigentlich das Problem?«, fragte ich und sah ihn mit dem ergebenen Blick eines alten Bernhardiners an.

»Swetlana. Du bist gegen ihre Mission.«

»Natürlich.«

»Das sind doch Schulweisheiten, Anton. Axiome. Du hast nicht das Recht, gegen die Politik der Wache Einwände zu erheben, wenn diese einzig auf deinen persönlichen Interessen basieren.«

»Was haben meine persönlichen Interessen damit zu tun?«, wunderte ich mich aufrichtig.»Ich glaube, dass die ganze Operation, die hier vorbereitet wird, amoralisch ist. Sie wird den Menschen keinen Nutzen bringen. So oder so sind alle Versuche, die Gesellschaft der Menschen grundlegend zu verändern, fulminant gescheitert.«

»Früher oder später werden wir es schaffen. Dabei behaupte ich ja gar nicht, dass es dieses Mal sein wird. Aber unsere Chancen stehen so gut wie nie.«

»Das glaube ich nicht.«

»Du kannst eine Beschwerde bei der obersten Leitung einreichen.«

»Schaffen sie es denn, die bis zu dem Tag zu bearbeiten, an dem Swetlana die Kreide in die Hand nimmt und das Schicksalsbuch öffnet?«

Der Chef schloss die Augen bis auf einen Spalt. Seufzte.»Nein. Das schaffen sie nicht. Alles wird heute Nacht passieren, sobald unsere Zeit heran ist. Zufrieden? Dass du jetzt auch die Zeit unserer Aktion kennst?«

»Boris Ignatjewitsch.«Ich sprach ihn absichtlich mit dem Namen an, unter dem ich ihn kennen gelernt hatte.»Hören Sie mir zu. Ich bitte Sie. Irgendwann einmal haben Sie Ihre Heimat verlassen und sind nach Russland gekommen. Nicht, weil es im Interesse des Lichts war, nicht, weil es Ihrer Karriere diente. Sondern wegen Olga. Ich weiß ein wenig, was Sie hinter sich haben. Wie viel Hass und Liebe, Verrat und Großmut Sie schon erfahren haben. Aber Sie müssen auch mich verstehen. Sie können das.«

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Welche Antwort. Ob einen abgewandten Blick oder ein zwischen den Zähnen hervorgepresstes Versprechen, die Aktion abzublasen.

»Ich verstehe dich gut, Anton.«Der Chef nickte.»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut. Gerade deshalb wird die Aktion weitergehen.«

»Aber warum?«

»Ja weil es so etwas wie das Schicksal gibt, mein Junge. Und nichts stärker ist als das Schicksal. Dem einen ist es vorherbestimmt, die Welt zu verändern. Dem andern ist das nicht gegeben. Dem einen ist es vorherbestimmt, einen Staat ins Wanken zu bringen, dem andern, hinter den Kulissen zu stehen, die Fäden der Marionetten in den von Kreide weißen Händen. Anton, glaube mir, ich weiß, was ich tue. Glaube mir.«