Aber wenn du keine Waffen hast - nimm sie aus den Händen des Feindes.
Kraft!
Kraft.
Kraft!
Wenn es den dünnen Verbindungsfaden zu Geser noch gäbe, der sich zwischen einem jungen Magier und seinem Mentor spannt, müsste er längst gespürt haben, was hier vor sich ging. Müsste bemerkt haben, wie ich mich mit Energie voll pumpe, mit ungeheuerlicher Energie, die unüberlegt abgezogen wurde und für ein bislang noch unbekanntes Ziel eingesetzt werden sollte.
Was würde er tun?
Einen Magier aufhalten zu wollen, der diesen Weg eingeschlagen hat, ist sinnlos.
Ich ging zu Fuß zur Ausstellung der Errungenschaften. Ich wusste, wo alles passieren würde. Es gibt keinen Zufall, wenn hohe Magier ihn lenken. Das plumpe»Haus auf Beinen«, diese aufrecht hingestellte Streichholzschachtel - dort hatte Sebulon seinen Kampf um Swetlana ausgetragen, dort hatte Geser seinen Schützling entdeckt, der Inquisition zugeführt und nebenbei Swetlana geschult.
Das Zentrum der Kraft für die ganze Kombination.
Zum dritten Mal.
Ich wollte weder essen noch trinken. Trotzdem hielt ich einmal an, kaufte mir einen Becher Kaffee, trank ihn. Er schmeckte nach nichts, als sei kein Koffein darin. Die Menschen wichen mir aus, obwohl ich mich in der normalen Welt bewegte. Die Konzentration der Magie um mich herum wuchs.
Ich konnte meine Ankunft nicht verbergen.
Aber ich wollte mich auch gar nicht aus dem Hinterhalt anschleichen.
Eine junge schwangere Frau setzte vorsichtig, voller Bedacht einen Fuß vor den anderen. Ich erschauerte, als ich sah, dass sie lächelte. Und hätte mich beinah abgewandt, als mir aufging, dass auch das ungeborene Kind in seiner winzigen und sicheren Welt lächelte.
Ihre Kraft glich einer hellen rosafarbenen Pfingstrose - eine große Blume, deren kugelige Knospe sich noch nicht geöffnet hatte.
Ich musste alles nehmen, was mir über den Weg lief.
Ohne Zögern, ohne Mitleid.
Irgendetwas passierte in der mich umgebenden Welt.
Die Hitze schien noch stärker zu werden. Und zwar mit einem verzweifelten, krampfhaften Ruck.
Gewiss nicht zufällig. Die Dunklen und die Lichten Magier hatten in den letzten Tagen immer wieder versucht, die Schwüle zu vertreiben. Irgendwas tat sich. Ich blieb stehen, hob den Kopf und sah durchs Zwielicht zum Himmel.
Ein kaum merkliches Kreisen.
Funken am Horizont.
Dunst im Südosten.
Aureolen um die Spitze des Fernsehturms in Ostan-kino.
Es würde eine seltsame Nacht werden.
Ich berührte ein vorbeilaufendes Mädchen und nahm mir ihre naive Freude: Ihr Vater war nüchtern nach Hause gekommen.
Wie der abgebrochene Zweig einer Heckenrose, stachelig und porös.
Verzeiht mir.
Als ich zu dem»Haus auf Beinen«kam, war es fast elf Uhr abends.
Als Letzten berührte ich einen betrunkenen Schwerarbeiter, der an der Wand eines Tordurchgangs lehnte - jenes Durchgangs, in dem ich zum ersten Mal einen Dunklen getötet hatte. Er war fast unzurechnungsfähig. Und glücklich.
Ich nahm mir auch noch seine Kraft. Die lodernde, bespuckte Blüte eines Wegerich, ein hässliches, schmutzig braunes Stummelchen.
Auch das ist Kraft.
Als ich die Straße überquerte, gewahrte ich, dass ich nicht allein hier war. Ich rief meinen Schatten herbei und trat in die Zwielicht-Welt ein.
Um das Gebäude herum hatten sie eine Kette gebildet.
Die merkwürdigste Kette, die ich je gesehen hatte. Dunkle und Lichte abwechselnd. Ich entdeckte Semjon, nickte ihm zu und erntete als Antwort einen ruhigen, leicht vorwurfsvollen Blick. Tigerjunges, Bär, Ilja, Ignat…
Wann waren sie alle herbeigerufen worden? Während ich durch die Stadt gestrichen war und Kraft gesammelt hatte? War wohl nichts mit Urlaub, was, Jungs?
Und die Dunklen. Selbst Alissa fehlte nicht. Es war schrecklich sie anzusehen: Das Gesicht der Hexe ähnelte einer zerknitterten und wieder geglätteten Papiermaske. Offenbar hatte Sebulon nicht gelogen, als er ihre Bestrafung angekündigt hatte. Neben Alissa stand Alischer, und als ich seinen Blick auffing, begriff ich, dass die beiden einen tödliche Kampf austragen würden. Vielleicht nicht jetzt. Aber irgendwann auf alle Fälle.
Ich ging durch den Ring.
»Sperrgebiet«, sagte Alischer.
»Sperrgebiet«, echote Alissa.
»Ich bin berechtigt.«
In mir trug ich genug Kraft, um auch ohne Erlaubnis durchzugehen. Nur Große Magier könnten mich jetzt aufhalten, doch die waren nicht hier.
Aber niemand hielt mich auf. Also hatte jemand, Geser oder Sebulon, möglicherweise aber auch beide Chefs der Wachen, den Befehl gegeben, mich nur zu warnen.
»Viel Glück«, hörte ich es hinter mir flüstern. Ich drehte mich um und fing den Blick von Tigerjunges auf. Nickte.
Der Hauseingang war leer. Auch im Haus war alles ruhig, wie damals, als über Swetlana der Höllenwirbel von beispiellosen Ausmaßen kreiste. Das Böse, das sie selbst über sich heraufbeschworen hatte.
Ich ging durch grauen Dunst. Unter meinen Füßen erbebte es dumpf: Hier, in der Zwielicht-Welt, reagierte selbst der Boden auf Magie, selbst die Schatten menschlicher Häuser.
Die Luke in der Decke stand offen. Niemand legte mir auch nur das geringste Hindernis in den Weg. Das Traurigste war, dass ich nicht wusste, ob ich mich darüber freuen oder betrübt sein sollte.
Ich trat aus dem Zwielicht. Es nützte wohl nichts, dort zu bleiben. Jetzt nicht.
Ich stieg die Leiter zum Dach hoch.
Als Ersten sah ich Maxim.
Nichts an ihm erinnerte noch an den Mann von einst, diesen spontanen Lichten Magier, den Wilden, der ein paar Jahre lang die Adepten des Dunkels ermordet hatte. Vielleicht hatte man irgendwas mit ihm gemacht. Vielleicht hatte er sich auch von sich aus geändert. Manche Menschen geben ideale Henker ab.
Maxim hatte es geschafft. Er war ein Henker geworden. Ein Inquisitor. Einer, der über dem Licht und dem Dunkel steht, allen dient - und niemandem. Die Hände hatte er vor der Brust verschränkt, den Kopf leicht gesenkt. Etwas an ihm gemahnte an Sebulon, wie ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Und etwas an Geser.
Bei meinem Auftauchen hob Maxim ein wenig den Kopf. Sein klarer Blick huschte über mich hinweg. Dann schaute er zu Boden.
Also durfte ich in der Tat an dem, was hier geschah, teilhaben.
An einer Seite stand Sebulon stocksteif da. Er hatte sich in einen leichten Umhang gehüllt und schenkte mir nicht die geringste Aufmerksamkeit. Dass ich kommen würde, hatte er ohnehin gewusst.
Geser, Swetlana und Jegor standen beisammen. Sie reagierten weitaus lebhafter auf mein Erscheinen.
»Bist du also doch gekommen?«, fragte der Chef.
Ich nickte. Sah Swetlana an. Sie trug ein langes weißes Gewand, das Haar fiel ihr offen über die Schultern. In ihrer Hand flimmerte mit gespenstischem Licht ein Futteral - ein kleines Futteral aus weißem Saffianleder für eine Brosche oder ein Medaillon.
»Anton, du weißt es, ja?«, schrie Jegor.
Wenn jemand der Anwesenden glücklich war, dann er. Völlig.
»Ich weiß es«, antwortete ich. Und ging auf ihn zu. Zerstrubbelte ihm mit der Hand die Haare.
Seine Kraft glich der sattgelben Blüte des Löwenzahns.