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Jetzt hatte ich eingesammelt, was ich kriegen konnte.

»Restlos alles?«, fragte Geser.»Anton, was hast du vor?«

Ich antwortete ihm nicht. Etwas warnte mich. Etwas stimmte hier nicht.

Aber ja! Olga fehlte, warum auch immer.

Hatte sie die Anweisungen schon gegeben? Wusste Swetlana, was ihr bevorstand?

»Die Kreide«, sagte ich.»Das kleine Kreidestück, das von beiden Seiten abgenutzt ist. Mit ihm kann man überall etwas schreiben. Zum Beispiel auch im Schicksalsbuch. Die alten Zeilen durchstreichen und neue einfügen.«

»Anton, du sagst niemandem der hier Anwesenden etwas Neues«, bemerkte der Chef gelassen.

»Ist die Erlaubnis bereits erteilt?«

Geser sah Maxim an. Als spüre er den Blick, hob der Inquisitor den Kopf.

»Die Erlaubnis liegt vor«, bestätigte er mit dumpfer Stimme.

»Einspruch von Seiten der Tagwache«, brachte Sebulon gelangweilt hervor.

»Abgelehnt«, erwiderte Maxim gleichmütig. Abermals ließ er den Kopf auf die Brust sinken.

»Die Große Zauberin kann die Kreide jetzt in die Hand nehmen«, meinte ich.»Jede Zeile im Schicksalsbuch wird einen Teil ihrer Seele löschen. Löschen - und durch einen geänderten ersetzen. Das Schicksal eines Menschen kann man nur ändern, wenn man die eigene Seele drangibt.«

»Ich weiß«, sagte Swetlana. Sie lächelte.»Anton, du musst entschuldigen. Ich halte das für richtig. Es wird von Nutzen sein - für alle.«

In Jegors Augen blitzte Beunruhigung auf. Er spürte, dass etwas nicht stimmte.

»Anton, du bist ein Kämpfer der Wache«, meinte Geser.»Wenn du Einwände hast, kannst du sie jetzt vortragen.«

Einwände? Wogegen denn? Dass Jegor nicht ein Dunkler, sondern ein Lichter Magier wird? Dass er versucht, selbst wenn es noch so oft nicht geklappt hat, den Menschen Gutes zu bringen? Dass Swetlana eine Große Zauberin wird?

Wenn sie dabei auch alles Menschliche opfert, das noch in ihr ist.

»Ich habe nichts zu sagen«, erklärte ich.

Kam es mir nur so vor, oder funkelte in Gesers Augen Erstaunen auf?

Es war schwer zu ergründen, woran der Große Magier jetzt eigentlich dachte.

»Fangen wir an«, sagte er.»Swetlana, du weißt, was du zu tun hast.«

»Ja.«Sie sah mich an. Ich trat ein paar Schritte zurück. Geser ebenfalls. Jetzt standen sie zu zweit da, Swetlana und Jegor. Beide gleichermaßen verwirrt. Gleichermaßen angespannt. Ich beugte mich zu Sebulon hinüber. Der wartete. Swetlana öffnete das Futteral - das Knirschen der Schließen klang wie ein Schuss - und nahm langsam, als müsse sie einen Widerstand überwinden, die Kreide heraus. Ein winziges Stück. Ob es sich wirklich über die Jahrtausende, in denen das Licht versuchte, das Schicksal der Welt zu ändern, so abgenutzt hatte?

Geser seufzte.

Swetlana ging in die Hocke und begann einen Kreis zu zeichnen, der sie und den Jungen umschloss.

Mir blieb nichts zu sagen. Nichts zu tun.

Ich hatte so viel Kraft gesammelt, dass sie am Rand überschwappte.

Ich habe das Recht, Gutes zu tun.

Doch eine Kleinigkeit fehlte mir: das Verständnis.

Wind wehte. Ein zarter, vorsichtiger Wind. Legte sich.

Ich sah hoch und erschauerte. Etwas tat sich. Hier, in der Menschenwelt, hatte sich der Himmel mit Wolken bedeckt. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie sie

aufgezogen waren.

Swetlana hatte den Kreis fertig gezeichnet. Erhob sich.

Ich versuchte, sie durchs Zwielicht anzusehen, und wandte mich sofort ab. In ihrer Hand loderte ein Stück glühende Kohle. Fühlte sie den Schmerz?

»Ein Unwetter zieht auf«, sagte Sebulon aus der Ferne.»Ein richtiger Sturm, wie wir ihn lange nicht hatten.«Er lachte höhnisch auf.

Niemand schenkte seinen Worten Beachtung. Höchstens der Wind - er begann stetiger zu wehen, immer stärker. Ich sah nach unten - dort war alles ruhig. Swetlana fuhr mit der Kreide durch die Luft, als zeichne sie etwas, das nur sie sehen konnte. Eine rechteckige Kontur. Ein Muster darin. Jegor stöhnte leise. Warf den Kopf in den Nacken. Ich wollte schon einen Schritt nach vorn machen, hielt aber inne. Durch die Barriere kam ich nicht. Und wozu auch?

Darum ging es nicht.

Wenn du nicht weißt, was du machen sollst, darfst du auf nichts vertrauen. Weder auf den kühlen Kopf, noch auf das reine Herz, noch auf die heißen Hände.

»Anton!«

Ich sah Geser an. Der Chef wirkte irgendwie besorgt.

»Das ist nicht nur ein Sturm, Anton. Das ist ein Orkan. Es wird Opfer geben.«

»Die Dunklen?«, fragte ich bloß.

»Nein. Die Naturgewalten.«

»Haben wir es mit der Konzentration der Kraft etwas übertrieben?«, fragte ich. Der Chef ging nicht auf meinen spöttischen Ton ein.

»Anton, bis zu welchem Grad darfst du Magie einsetzen?«

Natürlich wusste er von dem Handel mit Sebulon.

»Bis zum zweiten.«

»Du kannst den Orkan aufhalten«, sagte Geser. Konstatierte einfach den Fakt.»Es wird bei einem Wolkenbruch bleiben. Du hast genug Kraft gesammelt.«

Der Wind fegte erneut los. Er hatte nicht mehr vor abzuflauen. Der Wind riss und drückte, als sei er entschlossen, uns vom Dach zu wischen. Regen peitschte.

»Das ist vermutlich die letzte Chance«, fuhr der Chef fort.»Aber es ist deine Entscheidung.«

Mit gläsernem Klirren entstand um Geser herum ein Kraftschild, gleichsam als habe er sich eine Tüte aus zerknittertem Zellophan übergestülpt. Noch nie hatte ich gesehen, dass ein Magier sich mit solchen Maßnahmen gegen das gewöhnliche Tosen der Naturgewalten schützte.

Swetlana fuhr in flatterndem Kleid fort, das Schicksalsbuch zu zeichnen. Jegor rührte sich nicht, sondern stand da, als sei er an ein unsichtbares Kreuz geschlagen. Vielleicht nahm er bereits nichts mehr wahr. Was passiert mit einem Menschen, wenn er sein altes Schicksal verliert und das neue noch nicht erlangt hat?

»Geser, du bereitest einen Taifun vor - im Vergleich dazu ist dieser Sturm überhaupt nichts!«, schrie ich.

Der Wind erstickte bereits unsere Worte.

»Das ist unvermeidlich«, erwiderte Geser. Er schien zu flüstern, doch jedes Wort klang völlig klar.»Das vollzieht sich bereits.«

Das Schicksalsbuch wurde sogar in der Menschenwelt sichtbar. Natürlich hatte Swetlana es nicht im eigentlichen Sinne gezeichnet, sondern es aus den tiefsten Schichten des Zwielichts herausgezogen. Eine Kopie angefertigt, und jede Veränderung der Kopie würde sich im Original wiederfinden. Das Schicksalsbuch erschien als Modell, eine Nachbildung aus lodernden Feuerfäden, die unbeweglich in der Luft hingen. Regentropfen flammten auf, sobald sie auf das Buch fielen.

Jetzt würde Swetlana anfangen, Jegors Schicksal zu ändern.

Und später, Jahrzehnte später würde Jegor das Schicksal der Welt ändern.

Wie immer zum Guten.

Wie üblich erfolglos.

Ich geriet ins Taumeln. Von einer Sekunde zur andern hatte sich der starke Wind völlig überraschend zu einem Orkan ausgewachsen. Um uns herum geschah etwas Unvorstellbares. Ich sah, wie die Autos auf der Straße anhielten, an den Straßenrand drängten - möglichst weit weg von den Bäumen. Völlig lautlos - das Heulen des Windes erstickte jeden Lärm - krachte eine riesige Reklamewand auf die Kreuzung. Spätheimkehrer rannten auf die Häuser zu, als hofften sie, die Mauern böten ihnen Schutz.

Swetlana hielt inne. Der glühende Punkt leuchtete in ihrer Hand.»Anton!«

Ich konnte ihre Stimme kaum hören.

»Anton, was soll ich tun? Sag’s mir! Soll ich das tun, Anton?«