Zufrieden war sie immer noch nicht, das sah ich. Doch ich bin kein Fahnder. Ich bin ein Stabsmitarbeiter, dem man befohlen hat, im Außendienst zu arbeiten.
»Wird schon alles werden«, beruhigte ich sie.»Vertrau mir. Konzentrieren wir uns auf die Suche nach dem Köder.«
»Also dann, gehen wir.«
»Hier ist das alles passiert«, teilte ich Olga mit. Wir standen in dem Tordurchgang. Im Zwielicht, natürlich.
Ab und an gingen Leute vorbei, die mir auf komische Weise auswichen, auch wenn sie mich nicht sahen.
»Hier hast du den Vampir getötet.«Olgas Stimme klang höchst sachlich.»Gut… Das ist mir klar, mein Freund. Du hast den Müll nicht gut entsorgt - aber das spielt weiter keine Rolle…«
Meiner Ansicht nach waren keine Spuren von dem dahingegangenen Vampir zurückgeblieben. Doch ich widersprach nicht.
»Hier stand die Vampirin… Hier hast du sie mit irgendwas geschlagen… nein, mit Wodka bespritzt…«Olga kicherte kaum hörbar.»Sie ist weggegangen… Unsere Jungs sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Dabei ist ihre Spur immer noch ganz klar!«
»Sie hat sich verwandelt«, brummte ich missmutig.
»In eine Fledermaus?«
»Ja. Garik hat gesagt, dass sie das im letzten Moment geschafft hat.«
»Schlecht. Die Vampirin ist stärker, als ich gedacht habe.«
»Und verrückt. Sie trinkt Blut von lebenden Menschen und tötet. Sie hat keine Erfahrung, aber platzt vor Kraft.«
»Wir werden sie vernichten«, sagte Olga hart.
Ich hüllte mich in Schweigen.
»Und hier haben wir auch die Spur des Jungen.«In Olgas Stimme schwang Respekt mit.»In der Tat… ein beachtliches Potenzial. Schaun wir mal, wo er wohnt.«
Wir gingen den Durchgang entlang und traten in den Hof hinaus. Er war groß und auf allen Seiten von Häusern begrenzt. Ich spürte die Aura des Jungen ebenfalls, wenn auch nur als schwache und verknäuelte Ausstrahlung: Er musste hier regelmäßig langkommen.
»Weiter«, kommandierte Olga.»Bieg nach links ab. Weiter. Jetzt nach rechts. Stopp…«
Ich blieb an einer Straße stehen, über die langsam die Straßenbahn zuckelte. Aus dem Zwielicht war ich immer noch nicht herausgetreten.
»In diesem Haus«, verkündete Olga.»Los. Da ist er.«
Der Bau sah scheußlich aus. Ein Hochhaus mit Flachdach, zu allem Überfluss auch noch auf irgendwelchen Beinen oder Pfeilern. Auf den ersten Blick wirkte es wie das gigantische Denkmal für eine Streichholzschachtel. Auf den zweiten wie Stein gewordener krankhafter Größenwahn.
»In so einem Haus ist gut morden«, sagte ich.»Oder verrückt werden.«
»Wir werden uns mit beidem befassen«, bestätigte Olga.»Weißt du, darin kenne ich mich aus.«
Jegor wollte nicht aus dem Haus. Nachdem seine Eltern zur Arbeit gegangen waren, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, hatte ihn sofort Angst gepackt.
Zugleich wusste er: außerhalb der leeren Wohnung würde die Angst zum Entsetzen werden.
Rettung gab es nicht. Gar keine, nirgends. Das Haus wiegte ihn wenigstens im Gefühl der Sicherheit.
Die Welt war zusammengebrochen, war gestern Abend in sich zusammengekracht. Jegor hatte immer offen zuzugeben - wenn auch nicht vor anderen, so doch vor sich selbst -, dass er kein Held war. Aber ein Feigling war er wohl auch nicht. Es gab Dinge, vor denen konnte und musste man Angst haben: Schlägertypen, Verrückte, Terroristen, Katastrophen, Feuer, Krieg und tödliche Krankheiten. Das konnte man alles in einen Topf werfen, das war alles gleichermaßen weit weg. Das alles gab es tatsächlich, aber nicht im täglichen Leben. Man brauchte nur ein paar einfache Regeln einzuhalten, nachts nicht draußen herumzustromern, sich nicht in fremden Vierteln herumzutreiben, die Hände vor dem Essen zu waschen und nicht auf die Gleise zu springen. Man konnte vor Unannehmlichkeiten Angst haben und gleichzeitig wissen, dass kaum Gefahr bestand, in diese Situationen hineinzugeraten.
Jetzt hatte sich alles geändert.
Es gab Erscheinungen, vor denen man sich nicht verstecken konnte. Erscheinungen, die es auf der Welt nicht gab und nicht geben dürfte.
Es gab Vampire.
Deutlich erinnerte er sich an alles, das Entsetzen hatte ihn nichts vergessen lassen, worauf er noch gestern vage gehofft hatte, als er nach Hause gerannt und dabei über die Straße geflitzt war, ohne vorher nach links oder rechts zu schauen. Und die schwache Hoffnung, am Morgen möge sich alles als Traum erweisen,
hatte sich nicht erfüllt.
Es war alles wahr. Wahr und unmöglich. Aber…
Es war gestern passiert. Ihm.
Er war noch spätabends unterwegs gewesen, gewiss, doch manchmal kam er sogar noch später nach Hause. Selbst seine Eltern, die nach Jegors fester Überzeugung bis heute nicht begriffen hatten, dass er mittlerweile fast dreizehn war, nahmen das gelassen hin.
Als er mit seinen Freunden aus dem Schwimmbad gekommen war - gut, da war es schon zehn. Sie waren alle zusammen bei McDonald’s reingestürmt, wo sie rund zwanzig Minuten geblieben waren. Auch das nicht ungewöhnlich, denn jeder, der es sich leisten konnte, ging nach dem Training dorthin. Danach… danach waren sie alle zusammen zur Metro gegangen. Das war nicht weit. Über eine helle Straße. Zu acht.
Bis dahin lief alles wie immer.
In der Metro war er dann irgendwie nervös geworden. Er hatte auf die Uhr gesehen und sich nach den anderen Fahrgästen umgeschaut. Doch da war nichts Verdächtiges.
Bloß, dass Jegor Musik hörte.
Und dann begann das, was nicht sein konnte.
Aus irgendeinem Grund war er in einen dunklen, stinkenden Tordurchgang getreten. War auf eine Frau und einen Mann zugegangen, die dort auf ihn warteten. Die ihn zu sich lockten. Freiwillig hatte er der Frau seinen Hals hingehalten, ihn ihren dünnen scharfen Zähnen dargeboten, die nichts Menschliches an sich hatten.
Selbst jetzt, zu Hause, allein, spürte Jegor die Kälte
– diesen süßen, betörenden Kitzel, der über seine Haut lief. Er hatte es doch gewollt! Hatte Angst gehabt, aber dennoch gewollt, dass die funkelnden Eckzähne ihn berührten, den kurzen Schmerz, dem… dem… dem etwas folgen würde… wahrscheinlich…
Und niemand auf der ganzen Welt konnte ihm helfen. Jegor erinnerte sich an den Blick der Frau, die die Hunde Gassi führte. Ein Blick, der durch ihn hindurchging, wachsam, aber keinesfalls gleichgültig. Angst empfand sie keine, denn sie sah einfach nicht, was hier geschah… Einzig und allein das Auftauchen des dritten Vampirs hatte Jegor gerettet. Dieser blasse Typ mit dem MD-Player, der sich ihm schon in der Metro an die Hacken geklebt hatte. Seinetwegen waren die beiden anderen ausgerastet wie ausgewachsene hungrige Wölfe, die sich um einen gehetzten, aber noch nicht getöteten Hirsch schlugen.
An diesem Punkt wirbelte alles durcheinander, lief viel zu schnell ab. Geschrei von irgendeinem Vertrag und von irgendeinem Zwielicht. Ein blauer Lichtblitz - und ein Vampir zerfiel vor seinen Augen zu Staub, genau wie im Kino. Das Aufheulen der Vampirin, nachdem der Mann ihr etwas ins Gesicht gespritzt hatte.
Und seine panische Flucht…
Und die schreckliche Erkenntnis, noch schrecklicher als das, was er eben erlebt hatte: Er durfte niemandem etwas davon sagen. Man würde ihm nicht glauben. Ihn nicht verstehen.
Vampire gibt es nicht!
Man kann nicht durch Menschen hindurchblicken, ohne sie zu bemerken!
Niemand verbrennt in einem Wirbel aus hellblauem
Feuer, verwandelt sich darin in eine Mumie, ein Skelett, einen Aschehaufen!
»Das stimmt nicht«, sagte Jegor sich selbst.»Es gibt sie. Es ist möglich. Es kommt vor!«