Doch sogar sich selbst konnte er kaum glauben…
Er war nicht in die Schule gegangen, räumte dafür aber jetzt die Wohnung auf. Er wollte etwas tun. Hin und wieder trat Jegor ans Fenster und spähte angespannt in den Hof.
Nichts, was verdächtig gewesen wäre.
Aber würde er sie überhaupt sehen können?
Sie würden kommen. Daran zweifelte Jegor nicht eine Sekunde. Sie wussten, dass er sich an sie erinnerte. Jetzt würden sie ihn als Zeugen umbringen.
Und nicht einfach nur umbringen! Sie würden sein Blut trinken und einen Vampir aus ihm machen.
Der Junge ging zum Bücherschrank, in dem die Hälfte der Regale mit Videokassetten voll gestellt war. Vielleicht würde er hier Rat finden. Dracula - Tot und unzufrieden. Nein, das war eine Komödie. Einmal beißen bitte. Völliger Quatsch. Die rabenschwarze Nacht - Fright Night. Jegor erschauerte. An den Film erinnerte er sich noch gut. Jetzt würde er sich erst recht nie wieder trauen, ihn anzusehen. Aber wie hieß es darin doch…»Das Kreuz hilft, wenn du daran glaubst.«
Wie konnte ein Kreuz ihm helfen? Er war ja nicht einmal getauft. Und an Gott glaubte er auch nicht. Zumindest bisher nicht.
Jetzt sollte er vielleicht besser damit anfangen?
Wenn es Vampire gibt, dann gibt es auch einen Teufel, und wenn es den Teufel gibt, dann gibt es also
auch Gott?
Wenn es Vampire gibt, dann gibt es auch Gott?
Wenn es das Böse gibt, dann gibt es auch das Gute?
»Blödsinn«, sagte Jegor. Er steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans, ging in die Diele und schaute in den Spiegel. Sein Spiegelbild sah ihn an. Vielleicht blickte er etwas zu finster drein, ansonsten war er aber ein ganz normaler Junge. Bisher war also noch alles in Ordnung. Sie hatten es nicht geschafft, ihn zu beißen.
Sicherheitshalber drehte er sich doch noch herum und versuchte, seinen Nacken zu betrachten. Nein, nichts. Keine Spuren. Einfach ein dünner, vielleicht nicht ganz sauberer Hals.
Die Idee kam ihm ganz plötzlich. Jegor stürzte in die Küche und schreckte dabei den Kater auf, der es sich auf der Waschmaschine gemütlich gemacht hatte. Er durchwühlte die Tüten mit Kartoffeln, Zwiebeln und Mohrrüben.
Da war der Knoblauch.
Hastig schälte Jegor eine Knolle und biss hinein. Der Knoblauch war scharf, versengte ihm den Mund. Jegor goss sich ein Glas Tee ein, mit dem er jede Zehe nachspülte. Viel half das nicht, seine Zunge brannte immer noch, das Zahnfleisch kribbelte. Aber es würde doch wohl helfen?
Der Kater schaute zur Küche hinein. Verständnislos starrte er den Jungen an, miaute enttäuscht und zog wieder ab. Wie man etwas derart Ekelhaftes essen konnte, wollte ihm einfach nicht in den Sinn.
Die letzten beiden Zehen kaute Jegor an, spuckte sie dann aus und rieb sich den Hals damit ein. Obwohl er selbst über sein Verhalten lachen musste, konnte er nicht damit aufhören.
Der Hals fing ebenfalls an zu jucken. Verdammt guter Knoblauch. Jeder Vampir würde allein vom Geruch verrecken.
Unzufrieden schrie der Kater in der Diele los. Jegor spitzte die Ohren und spähte aus der Küche hinaus. Nein, da war nichts. Die Tür war mit drei Schlössern und einer Kette verriegelt.
»Schrei nicht so, Greysik!«, schimpfte er streng.»Sonst kriegst du auch Knoblauch zu fressen.«
Nach Abwägung der Gefahr türmte der Kater ins elterliche Schlafzimmer. Was konnte Jegor noch tun? Silber soll ja helfen. Der Junge ging ins Schlafzimmer, wobei er abermals den Kater erschreckte, öffnete den Kleiderschrank und kramte unter Bettlaken und Handtüchern die Schatulle hervor, in der seine Mutter ihren Schmuck aufbewahrte. Er nahm sich eine silberne Kette und band sie um. Sie würde nach Knoblauch stinken, außerdem musste er sie heute Abend sowieso wieder zurücklegen. Vielleicht sollte er seine Sparbüchse plündern und sich ein Kettchen kaufen? Mit einem Kreuz. Und es immer tragen. Vielleicht sollte er verkünden, dass er an Gott glaube? So was kam ja vor, dass jemand, der noch nie, noch niemals gläubig gewesen war, plötzlich anfing, an Gott zu glauben!
Er ging durchs Wohnzimmer, setzte sich im Schneidersitz aufs Sofa und ließ nachdenklich den Blick durchs Zimmer schweifen. Hatten sie Espenholz im Haus? Vermutlich nicht. Wie sieht das überhaupt aus, Espenholz? Ob er in den Botanischen Garten gehen und sich aus einem Ast einen Dolch schnitzen sollte?
Das wäre alles sehr schön, gewiss. Nur ob das helfen würde? Wenn diese Musik abermals erklingen würde, diese leise, betörende Musik… Vielleicht würde er dann einfach die Kette abnehmen, den Dolch aus Espenholz zerbrechen und sich den Knoblauch vom Hals waschen?
Die leise, leise Musik… Unsichtbare Feinde. Vielleicht waren sie schon nah. Und er sah sie einfach nicht. Konnte nicht richtig schauen. Vielleicht saß der Vampir schon neben ihm und lachte sich ins Fäustchen, wenn er diesen dummen Bengel beobachtete, der seine Verteidigung aufbaute. Womöglich machte ihnen weder das Espenholz Angst, noch jagte ihnen der Knoblauch Schrecken ein. Wie sollte er gegen ein unsichtbares Wesen kämpfen?
»Greysik!«, rief Jegor. Auf Mietz, Mietz hörte der Kater mit seinem komplizierten Charakter nicht.»Komm her, Greysik!«
Der Kater hatte sich auf der Schwelle zum Schlafzimmer aufgebaut. Sein Fell war gesträubt, seine Augen funkelten. Er sah an Jegor vorbei, in eine Ecke, auf den Sessel, der am Couchtisch stand. Ein leerer Sessel…
Der Junge spürte, wie über seinen Rücken der nunmehr bereits vertraute eiskalte Schauder lief. Er wirbelte so abrupt herum, dass er vom Sofa flog und auf dem Boden landete. Der Sessel war leer. Die Wohnung ebenfalls. Und obendrein gut verriegelt. Finster war es jedoch geworden, als sei draußen das Sonnenlicht erloschen…
Hier war noch jemand.
»Nein«, schrie Jegor und kroch weg.»Ich weiß es!
Ich weiß es! Ihr seid hier!«
Der Kater stieß einen kollernden Laut aus und flüchtete unters Bett.
»Ich seh dich!«, brüllte der Junge.»Rühr mich nicht an!«
Der Hauseingang hätte sowieso düster und verdreckt gewirkt. Doch aus dem Zwielicht heraus betrachtet war er die reinste Katakombe. Die Betonwände, in der normalen Realität einfach nur dreckig, bewucherte im Zwielicht dunkelblaues Moos. Widerwärtig. Kein Anderer wohnte hier, der das Haus hätte davon befreien können… Ich strich mit der Hand über eine besonders dichte Stelle - das Moos fing an zu wabern, versuchte, vor der Wärme davonzukriechen.»Brenne«, befahl ich.
Parasiten mag ich nicht. Selbst wenn sie eigentlich keinen Schaden anrichten, sondern nur fremde Gefühle trinken. Die Hypothese, die riesigen Kolonien blauen Mooses könnten die menschliche Psyche durchschütteln und so Depressionen oder eine sorglose Heiterkeit hervorrufen, hat bislang noch niemand bewiesen. Doch ich habe es schon immer vorgezogen, auf Nummer sicher zu gehen.
»Brenne!«, wiederholte ich und schickte ein wenig Kraft in meine Handfläche.
Eine transparente heiße Flamme erfasste den dichten blauen Filz. Im Nu loderte der ganze Eingang. Ich ging zum Fahrstuhl, drückte den Knopf und betrat die Kabine. Die war sauberer.
»Achter Stock«, soufflierte Olga.»Warum hast du deine Kräfte dafür verschwendet?«
»War doch nicht der Rede wert…«
»Es kann sein, dass du alle Kraft brauchst, die du hast. Soll das Zeug doch wachsen.«
Ich hüllte mich in Schweigen. Der Fahrstuhl zuckelte langsam nach oben, ein Zwielicht-Lift, der Doppelgänger des normalen, der nach wie vor im Erdgeschoss wartete.