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»Du musst es ja wissen«, meinte Olga.»Die Jugend… ihre Kompromisslosigkeit…«

Die Türen öffneten sich. Hier im achten Stock tobte bereits das Feuer, das blaue Moos brannte wie Zunder. Es war heiß, viel heißer als normalerweise im Zwielicht. Leichter Brandgeruch lag in der Luft.

»Die Tür da…«, sagte Olga.

»Ich seh’s.«

In der Tat spürte ich die Aura des Jungen an der Tür. Er hatte sich heute noch nicht mal getraut, das Haus zu verlassen. Gut. Das Zicklein war an einer festen Leine, jetzt mussten wir nur noch auf den Tiger warten.

»Ich werde dann mal hineingehen«, verkündete ich. Und stieß gegen die Tür.

Die ging nicht auf.

Das konnte doch nicht wahr sein!

In der Realität mögen Türen mit allen möglichen Schlössern verriegelt sein - aber das Zwielicht hat seine eigenen Gesetze. Nur Vampire brauchen eine Einladung, damit sie ein fremdes Haus betreten dürfen, das ist der Preis, den sie für ihre außergewöhnliche Kraft und die gastronomische Beziehung zu den Menschen zahlen.

Um im Zwielicht eine Tür zu versperren, muss man zumindest in selbiges eintreten können.

»Das ist die Angst«, sagte Olga.»Gestern war der Junge entsetzt. Und gerade eben aus der ZwielichtWelt zurück. Er schloss die Tür hinter sich - und ohne es merken, hat er es gleich in beiden Welten getan.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Komm tiefer. Folge mir.«

Ich schaute auf meine Schulter - da war niemand. Das Zwielicht heraufzubeschwören, wenn man bereits in ihm weilt, ist kein Kinderspiel. Mehrmals musste ich meinen Schatten vom Boden heben, bis er schließlich Volumen gewann und vor mir in der Luft waberte.

»Komm schon, du schaffst es«, flüsterte Olga.

Ich trat in den Schatten hinein, und das Zwielicht verdichtete sich. Dicker Nebel quoll im ganzen Raum. Die Farben verschwanden völlig. Es war nur noch ein Geräusch zu hören: der Schlag meines Herzens, schwer und langsam, nachhallend, als würde auf dem Grund einer Schlucht auf eine Trommel eingedroschen. Und Wind pfiff - die Luft kroch in die Lungen, dehnte langsam die Bronchien. Auf meiner Schulter tauchte die weiße Eule auf.

»Lange halt ich es hier nicht aus«, flüsterte ich, während ich die Tür öffnete. In dieser Schicht war sie natürlich nicht verschlossen.

An meinen Beinen schoss ein dunkelgrauer Kater vorbei. Für Katzen existiert weder die Menschen- noch die Zwielicht-Welt, sie leben in allen Welten zugleich. Nur gut, dass sie ziemlich dumm sind.

»Mietz, Mietz, Mietz«, flüsterte ich.»Du brauchst keine Angst haben, kleiner Kater…«

Wohl um meine Kräfte zu testen, schloss ich hinter mir die Tür. So, mein Junge, jetzt bist du etwas besser geschützt. Aber ob dir das was nützt, wenn du den Ruf hörst?

»Komm da raus«, sagte Olga.»Du verlierst sehr schnell an Kraft. Diese Schicht des Zwielichts bereitet selbst einem erfahrenen Magier Probleme. Ich werde wohl auch wieder etwas höher gehen.«

Erleichtert trat ich nach draußen. Ich war einfach kein Fahnder, der in allen drei Schichten des Zwielichts spazieren gehen kann. Im Allgemeinen brauchte ich das auch nicht.

Die Welt gewann an Farbe. Ich sah mich um - die Wohnung war gemütlich und von den Ausgeburten der Zwielicht-Welt weitgehend verschont. Ein paar Streifen blauen Mooses an der Tür, kaum der Rede wert, denn sie würden von selbst eingehen, wenn erst mal der Hauptstamm ausgerottet war. Geräusche waren auch zu hören, allem Anschein nach aus der Küche. Ich spähte hinein.

Der Junge stand am Tisch und aß Knoblauch, den er mit heißem Tee hinunterspülte.

»Beim Licht und beim Dunkel…«, flüsterte ich.

Der kleine Kerl kam mir jetzt noch winziger und schutzbedürftiger vor als gestern. Mager, schlaksig, wenn auch nicht unbedingt schwach, denn offensichtlich trieb er Sport. Er trug verwaschene hellblaue Jeans und ein blaues T-Shirt.

»Armer Kerl«, sagte ich.

»Man muss einfach Mitleid mit ihm haben«, stimmte Olga zu.»Das Gerücht zu verbreiten, Knoblauch besitze magische Eigenschaften, war ein wirklich kluger Schachzug von den Vampiren. Angeblich hat sich das Bram Stoker selbst ausgedacht…«

Der Junge spuckte sich etwas zerkauten Brei auf die Hand und fing an, sich mit diesem Knoblauchpüree den Hals einzureiben.

»Knoblauch ist gesund«, sagte ich.

»Stimmt. Und er hilft. Gegen Grippeviren«, ergänzte Olga.»Meine Güte! Wie leicht die Wahrheit stirbt, wie lang die Lüge lebt… Aber der Junge ist wirklich stark. Der Nachtwache könnte ein neuer Fahnder nicht schaden.«

»Gehört er denn uns?«

»Im Moment gehört er niemandem. Sein Schicksal ist noch nicht besiegelt, das siehst du doch selbst.«

»Und wohin tendiert er?«

»Das lässt sich nicht sagen. Noch nicht. Dazu ist er zu verängstigt. Er würde jetzt alles tun, nur um sich vor den Vampiren zu retten. Er würde ein Dunkler werden, er würde ein Lichter werden.«

»Kann ich ihm nicht verdenken.«

»Natürlich nicht. Gehen wir.«

Die Eule flatterte auf und flog durch den Korridor. Ich folgte ihr. Wir bewegten uns jetzt dreimal so schnell wie Menschen. Das ist eines der wesentlichen Merkmale des Zwielichts: dass die Zeit anders vergeht.

»Wir warten hier«, befahl Olga, sobald sie im Wohnzimmer war.»Hier ist es warm, hell und gemütlich.«

Ich nahm in einem weichen Sessel Platz, der neben einem kleinen Tisch stand. Auf ihm lag eine Zeitung, auf die ich jetzt schielte.

Es gibt nichts Amüsanteres, als durchs Zwielicht Zeitung zu lesen.

»Kreditgewinne sinken«, verkündete die Überschrift.

In der Realität lautet dieser Satz freilich ganz anders.»Im Kaukasus nehmen die Spannungen zu.«

Jetzt könnte ich mir die Zeitung schnappen und die Wahrheit lesen. Die unverfälschte Wahrheit. Das, was der Journalist gedacht hat, als er einen Artikel zu einem vorgegebenen Thema zusammenschusterte. Jene Bruchstücke an Informationen, die er aus inoffiziellen Quellen bekam. Die Wahrheit über das Leben und die Wahrheit über den Tod.

Nur wozu?

Seit Jahr und Tag schere ich mich einen Dreck um die Welt der Menschen. Sie ist unser Fundament. Unsere Wiege. Aber wir sind Andere. Wir gehen durch verschlossene Türen und erhalten das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse aufrecht. Wir sind schrecklich wenige, und wir können uns nicht vermehren: Die Tochter eines Magiers wird nicht unbedingt eine Zauberin, der Sohn eines Tiermenschen lernt nicht zwangsläufig, sich in Vollmondnächten zu verwandeln.

Wir sind nicht verpflichtet, die gewöhnliche Welt zu lieben.

Wir bewahren sie nur deshalb, weil sie der Wirt für uns Parasiten ist.

Dabei hasse ich Parasiten!

»Woran denkst du?«, fragte Olga. Im Wohnzimmer tauchte der Junge auf. Er verschwand jedoch gleich wieder im Schlafzimmer, sehr schnell sogar, wenn man bedenkt, dass er sich in der normalen Welt bewegte. Er kramte im Schrank herum.

»An nichts weiter. Trauriges Zeug.«

»So was kommt vor. In den ersten Jahren machen das alle durch.«Olgas Stimme klang jetzt genau wie die eines Menschen.»Danach gewöhnst du dich daran.«

»Das ist es ja, weshalb ich heulen könnte.«

»Du solltest dich lieber freuen, dass wir noch am Leben sind. Zu Beginn des Jahrhunderts war die Zahl der Anderen auf ein kritisches Minimum zurückgegangen. Weißt du, dass man damals ernsthaft erwogen hat, die Dunklen und die Lichten zu vereinigen? Dass man bereits eugenische Programme ausgearbeitet hat?«