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»Ja, weiß ich.«

»Die Wissenschaft hätte uns beinah umgebracht. An uns hat man nicht geglaubt, wollte man nicht glauben. Damals nahm man an, die Wissenschaft könne eine bessere Welt schaffen.«

Der Junge kam ins Wohnzimmer zurück. Er setzte sich aufs Sofa und zupfte eine Silberkette zurecht, die um seinen Hals hing.

»Was heißt besser?«, fragte ich.»Wir sind aus der Menschheit hervorgegangen. Wir haben gelernt, ins Zwielicht einzutreten, haben gelernt, die Natur der Dinge und der Menschen zu verändern. Aber was hat sich dadurch geändert, Olga?«

»Vampire dürfen jetzt zumindest nicht mehr ohne Lizenz auf Jagd gehen.«

»Sag das mal dem Menschen, dessen Blut er gerade trinkt…«

In der Tür erschien der Kater. Er starrte uns an. Fauchte die Eule zornig an.

»Er reagiert auf dich«, sagte ich.»Olga, geh tiefer ins Zwielicht!«

»Zu spät«, erwiderte sie.»Entschuldige… ich habe nicht aufgepasst.«

Der Junge sprang vom Sofa auf. Viel schneller, als man es eigentlich in der Menschenwelt kann. Ungeschickt, denn er verstand selbst nicht, was mit ihm geschah, trat er in seinen Schatten hinein und fiel zu Boden. Er sah mich an - bereits aus dem Zwielicht heraus.

»Ich gehe tiefer…«, flüsterte die Eule und verschwand. Ihre Krallen bohrten sich mir schmerzhaft in die Schultern.

»Nein!«, schrie der Junge.»Ich weiß es! Ich weiß es! Ihr seid hier!«

Ich stand auf und breitete die Arme aus.

»Ich seh dich! Rühr mich nicht an!«

Er lag im Zwielicht. Mist! Es war passiert. Ohne jede Hilfe von außen, ohne Kurs und ohne Stimuli, ohne Anleitung eines Betreuers hatte der Junge die Grenze zwischen der Menschen- und der Zwielicht-Welt überschritten.

Davon, auf welche Weise man das erste Mal ins Zwielicht eintritt, was man dabei erblickt, was man fühlt, hängt im Großen und Ganzen ab, was man wird.

Ein Dunkler oder ein Lichter.

Wir dürfen ihn nicht der Dunklen Seite überlassen, denn dann würde das Gleichgewicht in Moskau endgültig zusammenbrechen.

Du stehst hart am Rande, mein Junge.

Und das ist schlimmer als die unerfahrene Vampirin.

Boris Ignatjewitsch hat das Recht, über eine Liquidierung zu entscheiden.

»Keine Angst«, sagte ich, ohne mich von der Stelle zu rühren.»Du brauchst keine Angst haben. Ich bin ein Freund und tu dir nichts.«

Der Junge kroch in eine Ecke und blieb dort wie erstarrt. Er ließ mich nicht aus den Augen und begriff offenkundig nicht, dass er ins Zwielicht eingetaucht war. Für ihn stellte sich das Ganze so dar, als sei es mit einem Mal finster im Zimmer geworden, als habe sich mit einem Mal Stille über alles herabgesenkt und als sei ich aus dem Nichts aufgetaucht…

»Keine Angst«, wiederholte ich.»Ich bin Anton. Wie heißt du?«

Er schwieg. In einem fort schluckte er. Dann presste er die Hand an den Hals, ertastete die Kette und schien sich ein wenig zu beruhigen.

»Ich bin kein Vampir«, sagte ich.

»Wer sind Sie?«Der Junge schrie. Nur gut, dass man diesen markerschütternden Schrei in der normalen Welt nicht hören konnte.

»Anton. Ich arbeite bei der Nachtwache.«

Jäh riss er die Augen auf - als schmerze ihn etwas.

»Meine Arbeit besteht darin, die Leute vor Vampiren und anderen Ungeheuern zu beschützen.«

»Das ist nicht wahr…«

»Warum?«

Er zuckte mit den Schultern. Gut.

Er versuchte, seine Möglichkeiten auszuloten, seinen Standpunkt darzulegen. Das hieß, die Angst hatte ihm nicht völlig den Verstand geraubt.

»Wie heißt du?«, fragte ich noch einmal. Vielleicht konnte ich den Jungen unter Druck setzen, ihm die Angst nehmen. Doch das würde bereits eine Intervention darstellen, noch dazu eine unerlaubte.

»Jegor…«

»Ein schöner Name. Ich bin Anton. Hast du das verstanden? Anton Sergejewitsch Gorodezki. Ich arbeite bei der Nachtwache. Gestern habe ich den Vampir getötet, der versucht hat, dich zu überfallen.«

»Nur einen?«

Sehr schön. Das Gespräch kam in Gang.

»Ja. Die Vampirin ist entkommen. Sie wird jetzt gesucht. Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin hier, um auf dich aufzupassen… und um die Vampirin zu vernichten.«

»Warum ist es überall so grau?«, fragte der Junge plötzlich.

Beachtlich! Was für ein beachtlicher kleiner Kerl!

»Ich werde es dir erklären. Aber erst musst du mir glauben, dass ich nicht dein Feind bin. Einverstanden?«

»Mal seh’n.«

Er klammerte sich an sein albernes Kettchen, als könne es ihn vor irgendetwas schützen. Ach, mein Junge, wenn doch bloß alles so einfach wäre in der Welt. Doch weder Silber noch Espenholz oder das heilige Kreuz werden dich retten. Das Leben gegen den Tod, die Liebe gegen den Hass - und Kraft gegen Kraft, denn die Kraft kennt keine moralische Kategorien. So einfach ist das alles. Das habe sogar ich innerhalb von nur zwei, drei Jahren begriffen.

»Jegor.«Langsam ging ich auf ihn zu.»Hör gut zu, was ich dir jetzt sage…«

»Stehen bleiben!«

Den Befehl erteilte er derart entschlossen, als halte er eine Waffe in Händen. Seufzend blieb ich stehen.

»Gut. Hör trotzdem zu. Abgesehen von der normalen Welt, der Menschenwelt, die du mit deinen Augen sehen kannst, gibt es noch eine Welt der Schatten, eine Zwielicht-Welt.«

Er dachte darüber nach. Trotz seiner Panik - und er hatte eine fürchterliche Angst, ich spürte Wellen erstickenden Entsetzens - versuchte der Junge, das zu begreifen. Es gibt Menschen, die paralysiert ihre Angst. Es gibt aber auch andere, denen sie Kraft verleiht.

Liebend gern hätte ich gehofft, auch zur zweiten Kategorie zu gehören.

»Eine Parallelwelt?«

Na bitte. Die Science-Fiction trat auf den Plan. Na meinetwegen, Namen waren dabei nur Schall und Rauch.

»Ja. Und in diese Welt können nur die gelangen, die übernatürliche Fähigkeiten haben.«

»Vampire?«

»Nicht nur. Auch Tiermenschen, Hexen, schwarze Magier… aber auch weiße Magier, Heiler und Seher.«

»Gibt es die denn alle wirklich?«

Er war klatschnass. Die Haare klebten ihm am Kopf, das T-Shirt am Körper, über seine Wangen sickerten Schweißperlen. Trotzdem ließ mich der Junge nicht aus den Augen und hielt sich abwehrbereit. Als übersteige das nicht seine Kräfte.

»Ja, Jegor. Manche Menschen sind in der Lage, in die Zwielicht-Welt einzutreten. Sie stellen sich auf die Seite des Guten oder des Bösen. Des Lichts oder des Dunkels. Sie sind die Anderen. So nennen wir einander: die Anderen.«

»Sind Sie ein Anderer?«

»Ja. Und du auch.«

»Warum das?«

»Du bist jetzt in der Zwielicht-Welt, mein Kleiner. Schau dich um und hör genau hin. Die Farben sind verblasst. Die Geräusche verstummt. Der Sekundenzeiger kriecht nur noch über das Zifferblatt dahin. Du bist in die Zwielicht-Welt eingetreten… Du wolltest die Gefahr erkennen und hast dabei die Grenze zwischen den beiden Welten überschritten. Hier vergeht die Zeit langsamer, hier ist alles anders. Denn das ist die Welt der Anderen.«

»Das glaube ich nicht.«Jegor drehte sich kurz um, dann sah er mich wieder an.»Und warum ist Greysik hier?«