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»Glaubst du mir jetzt, dass ich dein Freund bin?«, fragte ich.

»Ich weiß nicht. Zumindest kein Feind. Oder Sie können mir einfach nichts tun!«

Ich streckte die Hand aus und berührte den Hals des Jungen - sofort schreckte er zurück. Ich machte den Verschluss der Kette auf und nahm sie ihm ab.»Kapiert?«

»Das heißt, Sie sind kein Vampir.«Seine Stimme hatte sich ein wenig gesenkt.

»Stimmt. Aber nicht deshalb, weil ich Knoblauch und Silber anfassen kann. Damit hältst du einen Vampir nicht auf, Jegor.«

»Aber in allen Filmen…«

»Ja, und in allen Filmen gewinnen die guten Kerle gegen die schlechten. Aberglaube ist eine gefährliche Sache, mein Junge, er flößt dir falsche Hoffnungen ein.«

»Gibt es denn berechtigte Hoffnungen?«

»Nein. Das wäre ein Widerspruch in sich.«Ich erhob mich und befühlte den Verband. Alle Achtung, er war fest und ziemlich straff gewickelt. In einer halben Stunde würde ich die Wunde besprechen können, aber noch fehlte mir dazu die Kraft.

Der Junge beobachtete mich vom Sofa aus. Ja, er hatte sich ein wenig beruhigt. Glaubte mir aber immer noch nicht. Der weißen Eule, die mit Unschuldsmiene auf dem Fernseher vor sich hin döste, schenkte er komischerweise nicht die geringste Beachtung. Offenbar hatte Olga doch in sein Bewusstsein eingegriffen. Was mir nur recht sein konnte: Zu erklären, was es mit dieser sprechenden Eule auf sich hatte, wäre höchst schwierig gewesen.

»Hast du was zu essen da?«, fragte ich.

»Was wollen Sie denn?«

»Irgendwas. Tee mit Zucker. Ein Stück Brot. Ich habe nämlich auch viel Kraft verloren.«

»Wir finden schon was. Und wie haben Sie sich verletzt?«

Darauf wollte ich nicht näher eingehen, ihn aber auch nicht anlügen.

»Das hab ich absichtlich gemacht. Es musste sein, um dich aus dem Zwielicht zu holen.«

»Danke. Falls das stimmt.«

Ganz schön frech, das Bürschchen, aber mir gefiel das.

»Keine Ursache. Wenn du im Zwielicht verloren gegangen wärst, hätte mir mein Vorgesetzter den Kopf abgerissen.«

Der Junge schnaubte und stand auf. Trotz allem versuchte er, Abstand zu mir zu halten.»Wie ist Ihr Vorgesetzter?«

»Streng. Was ist, machst du mir einen Tee?«

»Für einen netten Menschen ist einem doch nichts zu schade.«Trotzdem hatte er immer noch Angst. Und die versteckte er hinter einem nassforschen Auftreten.

»Damit das gleich klar ist: Ich bin kein Mensch. Ich bin ein Anderer. Und du bist auch ein Anderer.«

»Und worin besteht der Unterschied?«Jegor musterte mich demonstrativ von oben bis unten.»Im Äußeren bestimmt nicht!«

»Solange ich keinen Tee kriege, werde ich gar nichts sagen. Weißt du nicht, wie man Gäste bewirtet?«

»Ungebetene? Wie sind Sie überhaupt hereingekommen?«

»Durch die Tür. Ich zeig’s dir. Später.«

»Gehen wir.«Offenbar hatte er nun doch beschlossen, mir Tee zu kochen. Ich folgte dem Jungen und rümpfte unwillkürlich die Nase.

»Nur eins, Jegor…«, bat ich, weil ich es nicht länger ertrug.»Wasch dir erst mal den Hals.«

Ohne sich umzudrehen, schüttelte der Junge den Kopf.

»Du musst immerhin zugeben, dass es dumm ist,

nur den Hals zu schützen. Der menschliche Körper hat fünf Punkte, an denen ein Vampir ihn beißen kann.«

»Ach ja?«

»Ach ja! Wobei ich natürlich nur den männlichen Körper meine.«

Selbst sein Nacken wurde knallrot.

Ich gab fünf gehäufte Löffel Zucker in den Tee.

»Bereiten Sie mir einen Tee mit zwei Löffeln Zucker…«, sagte ich mit einem Zwinkern zu Jegor.»… das möchte ich vor dem Tod noch kennen lernen.«

Offenbar kannte er diesen Witz nicht.

»Und wie viel soll ich nehmen?«

»Wie viel wiegst du?«

»Weiß nicht.«

Ich taxierte ihn.»Nimm vier. Das hilft gegen die Un-terzuckerung.«

Den Hals hatte er sich inzwischen zwar gewaschen, der Knoblauchgestank haftete ihm aber immer noch an.

»Jetzt erklären Sie mir alles!«, verlangte er, während er in gierigen Schlucken seinen Tee trank.

So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ganz gewiss nicht. Dem Jungen folgen, wenn der Ruf ihn ereilte. Die Vampirin töten oder gefangen nehmen. Und den dankbaren Jungen zum Chef bringen - der würde ihm dann alles erklären.

»Vor langer Zeit…«Ich verschluckte mich am Tee.»Hört sich wie ein Märchen an, nicht? Nur dass es keins ist.«

»Weiter.«

»Gut. Fange ich anders an. Es gibt die Welt der Menschen.«Ich machte eine Kopfbewegung zum Fenster hin, zu dem kleinen Hof und den über die Straße zuckelnden Autos.»Die da. Die um uns herum. Und die meisten können ihre Grenzen nicht überschreiten. So war das schon immer. Doch ab und an tauchen wir auf. Die Anderen.«

»Und die Vampire?«

»Vampire sind auch Andere. Klar, sie sind eine besondere Art von Anderen, ihre Fähigkeiten sind von vornherein festgelegt.«

»Das versteh ich nicht.«Jegor schüttelte den Kopf.

Stimmt schon, als Betreuer tauge ich nichts. Ich kann keine Binsenwahrheiten erklären, mag das auch nicht.

»Zwei Schamanen, die Giftpilze gegessen haben, schlagen ihr Tamburin«, sagte ich.»Vor langer, langer Zeit, noch in der Urgeschichte. Einer der beiden Schamanen führt die Jäger und den Häuptling tüchtig an der Nase herum. Der andere sieht, wie sein Schatten im Licht des Lagerfeuers auf dem Höhlenboden erzittert, wie er Volumen gewinnt und sich zu voller Größe aufrichtet. Er macht einen Schritt und tritt in den Schatten hinein. Tritt ins Zwielicht ein. Und dann kommt das Interessanteste. Verstehst du?«

Jegor schwieg.

»Das Zwielicht verändert den, der es betritt. Es ist eine andere Welt, und sie macht aus Menschen Andere. Was du wirst, hängt nur von dir ab. Das Zwielicht ist ein wilder Fluss, der dich in alle Richtungen gleichermaßen reißt. Du kannst entscheiden, was du in der Zwielicht-Welt sein möchtest. Aber du musst schnell entscheiden, denn du hast nicht viel Zeit.«

Jetzt hatte er es verstanden. Die Pupillen des Jungen verengten sich, er erblasste leicht. Eine gute Stressreaktion, er würde einen guten Fahnder abgeben…

»Was kann ich denn werden?«

»Was du willst. Du hast das noch nicht bestimmt. Und weißt du, auf welche Entscheidung es hinausläuft? Die zwischen Gut und Böse. Zwischen Licht und Dunkel.«

»Und du bist ein Guter?«

»In erster Linie bin ich ein Anderer. Der Unterschied zwischen Gut und Böse besteht in der Einstellung gegenüber den gewöhnlichen Menschen. Wenn du das Licht wählst, setzt du deine Fähigkeiten nicht zu deinem persönlichen Vorteil ein. Wenn du das Dunkel wählst, ist das für dich ganz normal. Doch auch ein schwarzer Magier ist in der Lage, Kranke zu heilen und spurlos Vermisste zu finden. Während ein weißer Magier den Menschen seine Hilfe ebenso gut verweigern kann.«

»Dann begreife ich nicht, worin der Unterschied besteht!«

»Du wirst es begreifen. Dann, wenn du dich auf die eine oder andere Seite schlägst.«

»Das werde ich niemals tun!«

»Dazu ist es bereits zu spät, Jegor. Du bist im Zwielicht gewesen, du veränderst dich bereits. Der Tag wird kommen, da wirst du deine Wahl treffen.«