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»Wenn du das Licht gewählt hast…«Jegor stand auf, um sich noch Tee einzugießen. Mir fiel auf, dass er mir zum ersten Mal den Rücken zukehrte, ohne Angst zu haben.»Wer bist du dann? Ein Magier?«

»Der Schüler eines Magiers. Ich arbeite im Büro der Nachtwache. Auch diese Arbeit muss getan werden.«

»Und was kannst du? Zeig mir mal was, damit ich dir glaube!«

Das lief ja wie im Lehrbuch. Er war im Zwielicht gewesen, doch das hatte ihn noch nicht überzeugt. Etwas harmloser Hokuspokus würde ihn weitaus stärker beeindrucken.

»Schau her!«

Ich streckte ihm meine Hand entgegen. Jegor erstarrte und versuchte zu verstehen, was hier vor sich ging. Dann sah er auf die Tasse.

Vom Tee stieg schon kein Dampf mehr auf. Er war gefroren, hatte sich in einen kleinen Eiszylinder von trüber brauner Farbe verwandelt, in dem Teeblätter eingeschlossen waren.

»Oi«, sagte der Junge.

Die Thermodynamik ist ein sehr einfacher Aspekt bei der Beherrschung der Materie. Sobald ich die brownsche Bewegung wieder zuließ, kochte das Eis auf. Jegor schrie auf und ließ die Tasse fallen.

»Entschuldigung.«Ich sprang auf und holte einen Lappen aus dem Spülbecken. Hockend wischte ich die Pfütze auf dem Linoleum auf.

»Die Magie bringt echte Unannehmlichkeiten mit sich«, kommentierte der Junge.»Schade um die Tasse.«

»Pass auf!«

Der Schatten sprang mir entgegen, ich trat ins Zwielicht ein und besah mir die Scherben. Sie erinnerten sich noch an das Ganze, und der Tasse war es keineswegs bestimmt gewesen, so kaputtzugehen.

Im Zwielicht fegte ich mit einer Hand ein paar Scherben zusammen. Einige der allerkleinsten, die unterm Herd gelandet waren, kamen bereitwillig herangerollt.

Dann trat ich aus dem Zwielicht heraus und stellte die weiße Tasse auf den Tisch.»Nur den Tee musst du noch mal eingießen.«

»Stark.«Dieser kleine Taschenspielertrick schien den Jungen schwer beeindruckt zu haben.»Ist das mit allen Sachen möglich?«

»Bei Sachen geht das fast immer.«

»Anton - und wenn vor einer Woche etwas kaputtgegangen ist?«

Unwillkürlich musste ich schmunzeln.

»Dann nicht. Tut mir Leid, aber dann ist es schon zu spät. Das Zwielicht gibt uns eine Chance, doch die muss man schnell nutzen, sehr schnell.«

Jegors Miene verfinsterte sich. Was er wohl vor einer Woche zerschlagen hatte?

»Glaubst du mir jetzt?«

»Ist das Magie?«

»Ja. Die allereinfachste. Für die braucht man kaum etwas zu lernen.«

Vielleicht war es unvorsichtig, das zu sagen. In den Augen des Jungen blitzte etwas auf. Er wog bereits seine Perspektiven ab. Seinen Vorteil.

Licht und Dunkel…

»Und ein erfahrener Magier - kann der auch noch

andere Sachen?«

»Sogar ich kann noch andere Sachen.«

»Auch Menschen beeinflussen?«

Licht und Dunkel…

»Ja«, sagte ich.»Ja, das können wir.«

»Und macht ihr das auch? Warum können Terroristen denn dann Geiseln nehmen? Ihr könntet euch doch einfach durchs Zwielicht anpirschen und sie erschießen. Oder sie zwingen, sich zu erschießen! Und warum sterben die Menschen dann an Krankheiten? Magier können heilen, das haben Sie doch selbst gesagt!«

»Das wäre das Gute«, erwiderte ich.

»Natürlich! Schließlich seid ihr doch Lichte Magier!«

»Wenn wir irgendeine eindeutig gute Tat ausführen, haben auch die Dunklen Magier das Recht auf eine böse Tat.«

Verwundert schaute Jegor mich an. In den letzten vierundzwanzig Stunden war eine Menge auf ihn eingestürzt. Dafür verdaute er das alles nicht schlecht.

»Leider ist das Böse von seiner Natur her stärker, Jegor. Das Böse ist destruktiv. Es fällt ihm weitaus leichter, etwas zu zerstören, als das Gute etwas zu schaffen vermag.«

»Und was macht ihr dann? Ihr habt doch diese Nachtwache… Kämpft ihr mit den Dunklen Magiern?«

Darauf durfte ich nicht antworten. Das ging mir mit der vernichtenden Klarheit auf, mit der ich begriff: Ich hätte überhaupt nicht offen mit dem Jungen reden dürfen. Hätte ihn besser benebeln sollen. Tiefer ins Zwielicht eintreten sollen. Aber auf gar keinen Fall, unter gar keinen Umständen irgendwelche Erklärungen

abgeben!

Denn die würde ich nicht beweisen können!

»Kämpft ihr mit denen?«

»Nicht unbedingt«, sagte ich. Die Wahrheit war schlimmer als die Lüge, doch ich hatte kein Recht zu lügen.»Wir observieren uns gegenseitig.«

»Rüstet ihr euch zum Kampf?«

Ich sah Jegor an und dachte darüber nach, dass er alles andere als ein dummer Junge war. Dennoch blieb er ein Junge. Und wenn ich ihm jetzt sagen würde, dass eine große Schlacht zwischen dem Guten und dem Bösen bevorstand, dass er der neue Jedi der Zwielicht-Welt werden könnte, dann hätten wir ihn in der Tasche.

Freilich nicht für lange.

»Nein, Jegor. Wir sind nur sehr wenige.«

»Lichte? Die Dunklen sind in der Überzahl?«

Jetzt ist er bereit, sein Zuhause aufzugeben, Mutter und Vater zu verlassen, eine funkelnde Rüstung anzulegen und für die Sache des Guten zu sterben.

»Nein, die Anderen insgesamt. Jegor… die Schlachten zwischen dem Guten und dem Bösen haben Tausende von Jahren mit wechselndem Erfolg getobt. Hin und wieder hat das Licht gesiegt, aber du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Menschen, die von der Zwielicht-Welt noch nicht einmal etwas ahnen, dabei gestorben sind. Es gibt nur wenige Andere, doch jeder Andere kann ein Gefolge von mehr als tausend gewöhnlichen Menschen haben. Jegor - wenn jetzt ein Krieg zwischen dem Guten und dem Bösen ausbrechen würde, dann würde die Hälfte der Menschheit sterben.

Deshalb wurde vor fast fünfzig Jahren ein Vertrag unterschrieben. Der Große Vertrag zwischen Gut und Böse, zwischen dem Dunkel und dem Licht.«

Er riss die Augen auf.

Ich atmete tief durch und fuhr dann fort:»Der Vertrag ist nur kurz. Ich lese ihn dir jetzt vor, so, wie er offiziell ins Russische übersetzt worden ist. Denn du hast bereits das Recht, ihn zu kennen.«

Ich kniff die Augen zusammen und spähte in die Dunkelheit. Das Zwielicht erwachte zum Leben, wölkte vor mir auf. Eine graue Stoffbahn entrollte sich, auf der dicht an dicht rote Buchstaben loderten. Den Vertrag darf man nicht aus dem Gedächtnis zitieren, man darf ihn nur vorlesen:

Wir sind die Anderen,

Wir dienen unterschiedlichen Kräften,

Doch im Zwielicht besteht kein Unterschied

Zwischen dem Fehlen des Dunkels

Und dem Fehlen des Lichts.

Unser Kampf vermag die Welt zu vernichten.

Wir schließen den Großen Vertrag über die Waffenruhe.

Jede Seite wird gemäß ihren eigenen Gesetzen leben,

Jede Seite wird ihre eigenen Rechte haben.

Wir begrenzen unsere Rechte und unsere Gesetze.

Wir sind die Anderen.

Wir gründen die Nachtwache,

Damit die Kräfte des Lichts

Über die Kräfte des Dunkels wachen.

Wir sind die Anderen.

Wir gründen die Tagwache,

Damit die Kräfte des Dunkels