Über die Kräfte des Lichts wachen.
Die Zeit wird für uns entscheiden.
Jegor machte große Augen.
»Licht und Dunkel leben in Frieden miteinander?«
»Ja.«
»Und… die Vampire…«Immer und immer wieder kam er auf dieses Thema zurück.»Sind das Dunkle?«
»Ja. Es sind Menschen, die durch die Zwielicht-Welt völlig verändert werden. Sie bekommen enorme Möglichkeiten zugebilligt, verlieren aber ihr Leben. Ihre Existenz verdanken sie fremder Energie. Und Blut ist die bequemste Form, diese Energie aufzunehmen.«
»Aber sie bringen Menschen um!«
»Sie können auch von Blutspenden leben. Das ist wie mit künstlicher Nahrung, mein Junge. Ohne jeden Geschmack, aber kalorienreich. Wenn sich Vampire gestatten würden, auf Jagd zu gehen…«
»Aber sie sind über mich hergefallen!«
Er dachte jetzt nur an sich. Was nicht gut war.
»Manche Vampire brechen die Gesetze. Deshalb haben wir ja auch die Nachtwache: um zu überwachen, dass der Vertrag eingehalten wird.«
»Aber einfach so machen die Vampire keine Jagd auf Menschen?«
Über meine Wange strich ein Luftzug, den unsichtbare Flügel hervorriefen. Krallen bohrten sich mir in die Schulter.
»Was willst du ihm jetzt antworten, Wächter?«, flüsterte Olga aus den Tiefen des Zwielichts. »Traust du dich, ihm die Wahrheit zu sagen?«
»Sie machen Jagd«, antwortete ich. Und fügte das hinzu, was mir damals, vor fünf Jahren, den größten
Schrecken eingejagt hatte:»Mit Lizenzen. Denn manchmal… manchmal brauchen sie lebendes Blut.«
Er stellte die Frage nicht sofort. In den Augen des Jungen las ich jedoch alles, was er gerade dachte, alles, was er wissen wollte. Und wusste, dass ich auf alle Fragen würde antworten müssen.
»Und ihr?«
»Wir verhindern die Wilderei.«
»Dann hätte euer Vertrag es denen also erlaubt… mich zu überfallen? Falls sie eine Lizenz gehabt hätten?«
»Ja«, sagte ich.
»Und die hätten mein Blut getrunken? Und Sie wären vorbeigegangen und hätten weggeschaut?«
Licht und Dunkel…
Ich schloss die Augen. Der Vertrag loderte im grauen Nebel. Gemeißelte Zeilen, hinter denen Jahrtausende des Krieges und Millionen Leben standen.
»Ja.«
»Gehen Sie…«
Der Bengel hielt sich sprungbereit. Balancierte am Rande der Hysterie, am Abgrund des Wahnsinns entlang.
»Ich bin gekommen, um dich zu beschützen.«
»Nicht nötig!«
»Die Vampirin ist frei. Sie wird versuchen, über dich herzufallen…«
»Verschwinden Sie!«
»Hast du’s vermasselt, Wächter?«, seufzte Olga. Ich erhob mich. Jegor zuckte zusammen und rutschte mit seinem Hocker von mir weg.
»Du wirst es schon noch verstehen«, sagte ich.»Wir haben keine andere Wahl…«
Was ich da sagte, glaubte ich selbst nicht. Außerdem war es sinnlos, jetzt einen Streit anzufangen. Draußen dunkelte es bereits, bald würde die Zeit der Jagd beginnen…
Der Junge folgte mir, als wolle er sich überzeugen, dass ich die Wohnung auch wirklich verließ und mich nicht etwa im Schrank versteckte. Ich sagte kein Wort mehr. Öffnete einfach die Tür und trat ins Treppenhaus hinaus. Die Tür fiel hinter mir zu.
Ich stieg zum nächsten Treppenabsatz hinauf und hockte mich vors Fenster. Olga schwieg, ich ebenfalls.
Man darf die Wahrheit nicht so unverblümt aussprechen. Die Menschen tun sich schon schwer damit, auch nur unsere Existenz anzuerkennen. Sich dann noch mit dem Vertrag abzufinden…
»Wir konnten nichts tun«, sagte Olga.»Wir haben den Jungen falsch eingeschätzt, sowohl seine Fähigkeiten als auch seine Angst. Er hat uns entdeckt. Wir mussten auf seine Fragen antworten, und zwar wahrheitsgemäß.«
»Formulierst du schon den Bericht?«, fragte ich.
»Wenn du wüsstest, wie viele Berichte dieser Art ich schon geschrieben habe…«
Aus dem Müllschlucker schlug uns fauler Gestank entgegen. Von draußen drang der Lärm des Prospekts herein, der langsam im Halbdunkel versank. Die ersten Laternen leuchteten bereits. Ich saß da, drehte das Handy zwischen den Händen und überlegte, ob ich jetzt den Chef anrufen oder lieber auf seinen Anruf
warten sollte. Denn bestimmt beobachtete mich Boris Ignatjewitsch ohnehin.
Bestimmt.
»Du solltest die Möglichkeiten der da oben nicht überschätzen«, sagte Olga.»Der Chef steckt bis über beide Ohren in den Problemen mit dem schwarzen Strudel.«
Das Handy in meinen Händen fing an zu quäken.
»Errätst du, wer dran ist?«, fragte ich, während ich das Gerät aufklappte.
»Woody Woodpecker. Oder Whoopi Goldberg.«
Mir war nicht nach Scherzen zumute.
»Hallo?«
»Wo bist du, Anton?«
Die Stimme des Chefs klang müde, gequält. So kannte ich ihn gar nicht.
»Auf dem Treppenabsatz eines widerlichen Hochhauses. Direkt neben dem Müllschlucker. Es ist ziemlich warm hier und fast gemütlich.«
»Hast du den Jungen gefunden?«, fragte der Chef ohne jedes Interesse.
»Ja…«
»Gut. Ich schicke dir Tigerjunges und Bär. Hier können sie sowieso nichts mehr ausrichten. Du fahr nach Perowo. Sofort.«
Als ich mit einer Hand in der Tasche kramte, präzisierte der Chef unverzüglich:»Wenn du kein Geld bei dir hast - nein, selbst wenn du welches hast. Halt einen Wagen der Miliz an, sollen die dich doch rasch hinfahren.«
»Ist es so ernst?«, fragte ich nur.
»Ziemlich. Du kannst jetzt sofort losfahren.«
Ich sah durch das Fenster in die Dunkelheit hinaus.
»Boris Ignatjewitsch, wir sollten den Kleinen nicht allein lassen. Er verfügt in der Tat über ein außerordentliches Potenzial…«
»Das weiß ich… Gut. Tigerjunges und Bär sind schon unterwegs, warte, bis sie da sind. In ihrer Obhut droht dem Jungen keine Gefahr. Sobald sie eintreffen, komm aber direkt hierher.«
Aus dem Apparat piepte es. Ich klappte das Handy zusammen und schielte auf meine Schulter.
»Und was sagst du dazu, Olga?«
»Merkwürdig.«
»Warum? Du hast doch selbst gesagt, dass sie es nicht schaffen.«
»Es ist merkwürdig, dass er dich kommen lässt und nicht mich…«Olga dachte kurz nach.»Vielleicht… Ach nein. Ich weiß auch nicht.«
Ich schaute durchs Zwielicht - und bemerkte am Horizont zwei kleine Flecken. Die beiden Fahnder jagten derart schnell heran, dass sie bereits in etwa fünfzehn Minuten hier sein würden.
»Er hat noch nicht mal nach der Adresse gefragt«, bemerkte ich verdrossen.
»Er wollte keine Zeit verlieren. Hast du nicht gespürt, wie er unsere Koordinaten aufgenommen hat?«
»Nein.«
»Du musst mehr trainieren, Anton.«
»Ich arbeite nicht im Außendienst.«
»Jetzt schon. Gehen wir runter. Den Ruf würden wir auch dort hören.«
Ich erhob mich - unser Platz auf der Treppe kam mir wirklich schon vertraut und gemütlich vor - und stakste hinunter. Ein bitterer, trauriger Nachgeschmack blieb in mir zurück. Hinter mir knallte eine Tür. Ich drehte mich um.
»Ich hab Angst«, sagte der Junge ohne jedes Drumherum.
»Es ist alles in Ordnung.«Ich ging wieder zu ihm nach oben.»Wir passen auf dich auf.«
Er biss sich auf die Lippe und ließ den Blick zwischen mir und dem Halbdunkel im Treppenhaus hin und her wandern. Mich wieder in die Wohnung zu lassen passte ihm gar nicht, ihm fehlte aber auch die Kraft, länger allein zu bleiben.